Beate Morgenstern - Villa am Griebnitzsee

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Als der «Zivi» Georg bei Susanne Burkard auftaucht, ein Geiger, der im nächsten Jahr an der Weimarer Musikhochschule studieren wird, steigen in der, inzwischen 54-Jährigen Bilder auf, wie sie einst jung war und für die Kunst brannte. Vom sächsischen Euba unternahm sie Fahrten in die Westberliner Kinos, lernte den Produzenten Atze Brauner kennen und wurde endlich 1959 an der damals noch jungen, heute legendären Babelsberger Filmhochschule aufgenommen. Dozenten wie Studenten waren in Villen bekannter Ufa-Schauspieler und Industrieller untergebracht, Die Villa am Griebnitzsee, in der 1945 Stalin während des Viermächtetreffens gewohnt hatte, ein Zentrum der Hochschule. Trotz aller Zwiespältigkeit erlebte Susanne in Babelsberg vier wundervolle Jahre. Die «Ankunft» im Alltag der Ernüchterung, ließ nicht auf sich warten, Susanne erzählt dem jungen Mann, zunehmend auch sich selbst. Beim Abschied Georgs am Ende seines Zivildienstjahres ist Susanne, als sei sie selbst noch einmal auf dem Weg.

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Hässlich ist Nanne. Nanne, das hässliche Mädchen. Die Mutter hackt auf Nanne herum. Nanne muss es glauben. Sie zieht Hosen an, um ihre Beine nicht zu zeigen, wird das Hosenmädchen genannt. Die Mutter schleppt Nanne zur Schneiderin, macht Vorschläge. Die Schneiderin nimmt Nanne zur Seite: Hör bloß nicht auf deine Mutter, sagt sie. Du hast doch Geschmack! Susanne kauft sich in Westberlin eine James-Dean-Weste, die dreißig Westmark kostet beim Kurs 1:5, eine Strickjacke mit Samteinsatz vorn und einen Wintermantel für umgerechnet 300 Ostmark. Im Sommer zwei Kleider. Sie trägt geschneiderte BHs. Bis sie an die Schule kommt. Ein Mädchen aus dem Nachbarzimmer begutachtet ihre eigentümliche Ausrüstung, schleppt sie nach Potsdam, zwingt sie, einen Teil ihres Stipendiums für zwei BHs der neuesten Mode auszugeben, Monroe-Büste mit Körbchen. Der Erfolg umwerfend. Im Seminar übergeht man noch Susannes Vervollkommnung. Aber als Susanne in die Regieklasse tritt, anerkennende Laute, Pfiffe. "Donnerwetter", sagen die Jungs. Die Schauspielmädchen schneiden Susanne die Haare kurz. Die Mädchen schminken sie. Susanne nicht mehr das hässliche Mädchen. Eine List der Mutter war es, die alles tat, um Susanne von den Jungen fernzuhalten. Nicht einmal auf den Tanzboden hatte sie sich gewagt.

Dass ich nicht tanzen ging, ist mir bei meiner zweiten Aufnahmeprüfung an der Schule fast zum Verhängnis geworden. Susanne sprach in Gedanken wieder mit Georg. Gehen Sie tanzen?, fragte der Parteisekretär. Nein, sagte ich. - Ein junges Mädchen, das nicht tanzt?, fragte der Parteisekretär, schüttelte den Kopf. - Ja, ich muss doch immer Klavier spielen, hab ich schnell gesagt. Dann tanzen die anderen. Und als ich es dann mal probiert habe, habe ich gemerkt, ich hab den Takt nur in den Händen, nicht in den Füßen! Lacher in der Runde. Ich hatte gewonnen.

Den Takt hat Susanne nicht nur in den Händen. Aber wie kann sie tanzen gehen, wenn sie sich vor Scham kaum auf die Straße getraut. Sie zieht sich nach Hause zurück. Liest. Und sie kauft Bücher. Verwendet während der Oberschulzeit ihr Essengeld dafür, Friedensware aus dem Lager zu Hause, die ihr die Mutter gibt, Kurvenlineale, Zirkelkästen bessern außerdem ihre Kasse auf Susanne räumt den Bücherschrank zu Hause um. Die Bücher in der hinteren Reihe bringt sie zu den alten Verwandten, den Boehms, stellt ihre hinein, stellt die von hinten langsam nach vorn. In einem entfernteren Raum ihres Hauses existiert ein alter Bücherschrank des Vaters. Vorn Nazischwarten. Verlag Eder "Volk unter dem Hammer". In der zweiten Reihe Bücher ganz anderer Art, Weltliteratur durchweg. Susanne lernt ihren Vater von einer neuen Seite kennen. Und für Biologie, Geologie interessierte er sich. Die Nazischwarten der Alibireihe verschwinden. Weltliteratur gesellt sich zu Weltliteratur.

An meinem Vater hab ich gehangen wie an niemandem sonst, dachte Susanne. War er da, war alles gut.

Banker war der Vater in Chemnitz. Doch die Mutter träumte vom eigenen Laden, von Selbständigkeit. Susannes Großvater war noch mit dem Bauchladen unterwegs gewesen. Die Mutter wollte einen deutlichen Aufstieg, drängte ihren Mann. Still und weich war er, ein Mann, wie ihn sich herrschsüchtige, unleidliche Frauen suchen. Er gab nach.

Er gab auch nach, als der Schwager zum Eintritt in die Partei drängte. Kein Eubener Geschäftsmann, der es wagte, nicht Mitglied dieser Partei zu sein. Und Boehm & Burkard hatten schließlich zwei Geschäfte.

Nur einmal gab er nicht nach. Als es um die Adoption eines Kindes ging. Ausgerechnet Susanne hatte es sein müssen, das Mädchen mit dem jüdischen Namen, das er holte. Warum es so schwierig war, Susanne zu adoptieren, konnte später niemand sagen. Der Vater handelte die Angelegenheit ohne Mitwissen der Verwandten aus, kämpfte Monate. Am Reformationstag 38 war es so weit: Er fuhr mit der Mutter in einem Opel vor dem Heim in Dresden-Radebeul vor, um Susanne mitzunehmen. Ein Jahr später war Krieg. Obwohl 38 Jahre, Inhaber von zwei Geschäften, wurde er als einer der Ersten einberufen. Nie zeichnete er sich aus, bekam keinen Sonderurlaub wie andere. Doch er kehrte gesund aus dem Krieg heim. Ganze glückliche 14 Tage waren Vater, Tochter und Mutter zusammen. Dann holten die Russen und zwei Deutsche den Vater als Nazi ab, steckten ihn in einen Sammeltransport. Noch waren die Männer, die man abgeholt hatte, im Rathaus eingesperrt. Boehm-Otto, der Schwager, drängte die Mutter. Susanne verstand nicht, worum es ging. Nur dass die Mutter Angst um Susanne hatte. Erst später wurde Susanne klar, die Mutter hatte es nicht gewagt, die Umstände der Adoption auf dem Rathaus zur Sprache zu bringen. Sie hatte die Furcht, nach dem Mann auch noch das Kind zu verlieren an die Mutter, die es auch gab und die mit Susannes Großmutter jeden Sommer, jedes Weihnachten sich im Dorf herumtrieb. Als einige Tage später eine Abordnung geachteter, unbelasteter Männer aus dem Ort im Rathaus vorsprach, war der Burkard-Walter schon nicht mehr aufzufinden.

Was hatte er sich zuschulden kommen lassen? War Schreibstubenhengst gewesen, trotz Abitur, das ihm eine militärische Laufbahn beinahe garantierte. Mitglied der NSDAP, und seit 38 Zellenleiter, vielleicht, um die Adoption des Kindes Susanne zu beschleunigen, das ihm das Fräulein v. Brück vom Ermel-Haus ans Herz gelegt hatte. Aber was war das schon für eine Funktion.

Der Krieg, ausgelöst vom great dictator, war noch lange nicht zu Ende gewesen. Selbst 50 Jahre später sah es noch einmal nach Siegern und Besiegten aus.

"Dictator of the world?" Wie aufgezogen klettert Chaplin-Hynkel einen langen Vorhang hinauf, als er von den Überlegungen seines Beraters Garbitsch erfährt. "Believe me, I want to be alone", lässt er sich vom Vorhang herab vernehmen. Helles süßes wagnerianisches Signal. Hynkel gleitet den Vorhang hinunter, beginnt mit einem großen leuchtenden Weltballon zu spielen, lacht, dreht ihn auf der Hand, stößt ihn mit dem Kopf, legt sich auf den Schreibtisch, stößt ihn mit dem Hintern. Über dem großen Emblem - zwei Kreuze, weißes Oval, Strahlen, vom Emblem ausgehend - schwebt der Weltballon. Der Diktator bewegt sich in höchster tänzerischer Eleganz, gibt dem Ballon mit dem rechten, mit dem linken Handrücken Schwung. Der leuchtende Weltball schwebt, springt vom Boden auf den Schreibtisch. Hynkel komponiert Bewegungen, die Welt und Hynkel in einer Sinfonie. Da platzt der Ballon. Ein hässlicher Gummilappen klebt an der Hand des Diktators.

17 ist Susanne, noch Oberschülerin, als sie die erste Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule macht. Berühmtheiten sitzen am U-förmigen Tisch. Für das Fach Regie hat sich Susanne gemeldet. In feinem Sächsisch antwortet Susanne standhaft auf die Fragen. Männchen oder Menschen?, fragt der den Vorsitz führende Professor, gibt seiner Lachlust nach. Den Unterschied wird Susannes sächsische Zunge nie herausbringen. Auf der freien Seite des Tisches liegen Reproduktionen von Gemälden. Eines von Repin. "Die Heimkehr des Verbannten". Mithilfe zweier Winkel soll Susanne die Szene in fünf Einstellungen zerlegen. Susanne begreift nicht. Der Professor nimmt ihr das Bild aus der Hand. Was machen wir mit ihr? Sie ist ja noch sehr jung, gibt er zu bedenken. Jemand sagt: Ich würde schon meinen, man sollte sie nehmen. Alle fangen an zu lachen. Warum? Susanne schaut auf jemanden in der Runde, bekommt den Blick nicht mehr los, als könnte der helfen: ein schwarzer Lockenkopf, das Gesicht kastenförmig, etwas eingedrückt, Narbe an der Oberlippe, noch trägt er nicht den Bart. Konny Wolf, Sohn des Friedrich Wolf, des Stuttgarter Arztes und Autors von "Zyankali". Konny Wolf lächelt. Na, den kennen Sie wohl?, fragt der Professor. Ja, antwortet Susanne. Aber ich kenne auch andere. Sie nennt viele beim Namen. Warum haben Sie gerade auf Konrad Wolf geschaut?, fragt der Professor. - Na, ich hab grad seinen Film gesehen. - Und wie finden Sie ihn? - Herr Professor Hellberg, soll ich ihn vielleicht gut finden?, erkundigt sich Susanne. Gelächter. Susanne kann gehen, braucht zu den anderen Prüfungen nicht zu erscheinen. Noch sind Sie zu jung, sagte der Professor. Aber ich glaube, für den Kinderfilm wären Sie geeignet.

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