Und das Beste kommt erst noch. Ich bin hier der einzige Bewohner – sieht man von den Mäusen und Spinnen ab. Angeblich soll es hier spuken. Willkommen in meinem Leben sag ich nur.
Die Eingangstüre fällt quietschend in die Angeln und ich frage mich, ob sie mich beim nächsten Mal unter sich begraben wird.
Vor mir tut sich die pompöse Eingangshalle auf. Ich schreite die Stufen zur Zwischenebene empor. Nach einem kurzen Flur öffne ich die Türe, die in den obersten Turm führt.
„Zweihundertfünfundsiebzig Stufen. Keine mehr und keine weniger. Oder?“ Ich glaube, ich werde echt verrückt, denn ich zähle die Stufen jedes Mal und komme immer zu einem anderen Ergebnis. Und ja – ich kann zählen. Mal sind es mehr, mal weniger. Echt gespenstisch.
Mühevoll stemme ich mich hoch. Ich schätze, ich hab doch ganz schön was abbekommen. Mein Schädel bringt mich schon mal fast um. Prima.
Hm, heute waren es 270 Stufen – nett. Immerhin weniger als sonst.
Ich stoße die Tür zu der winzigen Kammer auf und öffne das Fenster. Kühle Meeresluft strömt herein. Das Zimmer ist spärlich möbliert, aber immerhin hab ich fließend heißes Wasser und ein Bett. Alles, was man braucht.
Die Dämmerung beginnt bereits einzubrechen und der Gruselfaktor steigt ab jetzt exponentiell an. In den ersten Nächten bin ich fast umgekommen vor Angst. Das Haus macht echt viele gruslige Geräusche, aber das ist ja auch kein Wunder, bei dem baufälligen Zustand. Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, bei leichter Klaviermusik zu schlafen und zu hoffen, dass der Akku die ganze Nacht über hält. Man ist ja flexibel.
Wie jeden Abend, lasse ich die Wanne volllaufen und genieße ein Bad mit Melissenblättern, die ich ins Badewasser streue. Hier drin könnte ich stundenlang eingetunkt bleiben. Bis zum totalen Schrumpeln meiner Finger reichts aber jedes Mal. Meine Schulter ist an der Stelle, an der mich das Ding getroffen hat, ziemlich rot und tut auch dementsprechend weh. Wunderbar.
Ich fahre hoch. Wow, bin wohl eingeschlafen. Das Wasser ist schon ziemlich kalt und die Kerze runtergebrannt.
Ein Knarren geht durchs Haus. Ich schnappe mir mein Handtuch und stöpsle meinen mp3-Player ein. Ich habe es aufgegeben nachzusehen, ob jemand im Haus ist. Zwecklos.
Das macht einen nur unnötig fertig. Das heißt nicht, dass ich keine Angst habe. Es bedeutet nur, dass ich gelernt habe, damit umzugehen – da ist ein Unterschied. Ich hab aber dennoch gewaltig Schiss.
Es hat wohl geregnet, denn die Straße ist nass. Auf dem Weg zur Schule bin ich wieder dazu übergegangen, inbrünstig Karaoke zu singen und leichtfüßig herumzutänzeln. Das hat etwas ziemlich Befreiendes.
Nur im letzten Moment kann ich einem bleichen Mann ausweichen, der wütend gestikuliert. „Ja, dir auch einen wunderschönen guten Morgen. Mir geht’s prima. Hast du abgenommen?“, spotte ich ihm entgegen. Der Tag fängt ja schon gut an. Wie heißt es so schön – Geister am Morgen, bringen Kummer und Sorgen.
Im nächsten Augenblick lässt mich ein Hupen hochfahren. Ein schwarzer Geländewagen hinter mir ist wohl Ursprung des Lärms. Ich merke zwei Sekunden später, dass ich mitten auf der Straße stehe.
Der Tote hat mich wohl vom rechten Weg abkommen lassen und wenn man glaubt, es kann nicht schlimmer kommen, so fährt der Kelte, der mich gestern abgeschossen hat – alias die Arroganz in Person – vorbei, nachdem ich zur Seite gewichen bin.
Sein Blick streift mich verärgert und ich bin gewillt, ihm den Mittelfinger rauszustrecken, was ich aber erfolgreich unterdrücken kann. Das wär unterste Schublade. Jetzt fährt er mich auch noch fast über den Haufen der Idiot. Ganz toll.
Die letzten Meter bis zur Schule schleppe ich mich atemlos. Ich scheine doch mehr abbekommen zu haben als erwartet. Irgendwie komisch, ich bin ganz schön erschöpft.
Mich erwartet schon Geschnatter vom Allerfeinsten. Die Jagdsaison ist wohl eröffnet – die Jagd nach dem besten Männchen.
Die Weibchen haben sich zu wildem Tuscheln in Gruppen versammelt. Sie sondieren augenscheinlich die Lage und treffen ihre Auswahl. Bei den Männchen läuft dasselbe ab.
Da sind Hexer, Wassermänner und Kelten. Die bleichen Wesen sind glaub ich Elfen.
Ich frage mich gerade, wie man Werwölfe erkennt, aber ich entscheide mich kurzerhand, es gar nicht wissen zu wollen. Die restlichen Kreaturen sagen mir absolut nichts. Ich habe es aufgegeben, mir ihre Gattungsbezeichnung merken zu wollen.
Möglicherweise entscheidet sich der Direktor doch dafür, dass ich zu nichts tauge und entlässt mich wegen guter Führung. Dann bin ich hier sowieso bald weg.
Natürlich – wie könnte es auch anders sein – umzingeln zahlreiche Weibchen den Kelten, der mich gestern niedergemäht hat. Sie umgarnen ihn kichernd. Eine greift sogar an seinen Bizeps. Mann, wie offensichtlich ist das denn?
Die Außenwelt wieder vollkommen abschottend, bahne ich mir einen Weg durch die versammelten Schüler und lasse mich im hintersten Eck, in dem meist niemand sitzt, auf einen Sitz im Plenum des Hörsaals fallen.
Genau in dem Moment scheint meinem mp3-Player der Saft ausgegangen zu sein und ich reiße mir das Teil genervt aus den Ohren. Erschöpft lege ich meinen Kopf in meine Hände.
„Du solltest den Platz wechseln.“ Überrascht blicke ich auf. Da steht ein Hexer in schwarzem Umhang und mit braunem, strubbeligem Haar vor mir, dessen Wimpern so lang sind, dass jede Frau dafür töten würde. Er sieht eigentlich ganz gut aus, wenn man auf Hokuspokus steht, versteht sich.
„Erleuchte einen Träger gefährlichen Halbwissens“, entgegne ich gelangweilt.
„Negatives Karma“, stößt er aus. Das ringt mir ein Lächeln ab.
„Das bin ich “, erkläre ich gelassen. Wieder zieht ein Junge die Augenbrauen vor mir hoch. Ich scheine etwas an mir zu haben, das diese Geste auslöst.
„Hm. Ja, du hast recht. Es geht von dir aus“, bestätigt er.
„Sag ich doch.“ Jeder andere hätte die Message verstanden und wär abgezogen, aber er steht immer noch da und kratzt sich nachdenklich am Kinn.
Ich durchbreche ungeduldig die Stille. „Hör zu – es gibt noch 285 andere Sitzplätze in diesem Raum. Also, wieso suchst du dir nicht einen aus, der ein Karma nach deinem Geschmack trägt und hörst auf, mich anzustarren, als wär ich eine atmosphärische Anomalie.“
„Wieso kennst du die genaue Anzahl der Sitzplätze?“, will er wissen.
„Du bist echt strange , Mann“, stoße ich stirnrunzelnd aus.
„Sagt die, mit dem negativen Karma.“
„Sagt der, der gleich den Verschwindezauber anwenden wird, bevor er negatives Karma abbekommt.“
Er lächelt leicht und nimmt in weiter Entfernung an einem Seitenflügel des Plenums Platz, von wo er mich wunderbar im Blickfeld hat. Toll, der erste Tag mit den Jungs und schon fast überfahren worden und einen Hexenmeister-Stalker angelacht. Guter Schnitt.
Der Raum füllt sich schön langsam. Ich werd irgendwie das Gefühl nicht los, dass überraschend viele Leute zu mir raufstarren und sich das Tuscheln intensiviert hat.
Hm, liegt vielleicht an dem Riesen, der sich gerade drei Plätze weiter niedergelassen hat.
Fast alle aus meiner Reihe springen auf und bringen Abstand zwischen sich und den Koloss.
Irgendwie sieht er aus wie Frankensteins Monster. Schnell wende ich den Blick ab. Ich will ihn nicht anstarren, sowas ist unhöflich.
Seine Haut ist an einigen Stellen zusammengenäht und aus seinem viereckigen Schädel stehen Drehknöpfe raus. Er braucht allein schon zwei Sitze. Da alle Plätze wie in einem Kinosaal zusammenhängen, senkt sich auch mein Sitz verdächtig unter seiner Last.
Ich lasse mir mein Unbehagen über seine Anwesenheit nicht anmerken und mache das, was ich immer mache, wenn ich nervös bin – ich laber drauflos. „Hi, ich bin Melody.“
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