Der Gong des Feueralarms riss Melanie aus ihren Tagträumen. Drei Tage waren nach Daniels Attacke inzwischen vergangen. Sie hatte ihn so gut sie konnte ignoriert. Und natürlich hatte sich auch nichts an ihrer persönlichen Situation verändert. Im Gegenteil: Sie hatte nun noch weniger Kontakt mit Lisa, da sie nun täglich nach der Schule Termine mit ihrem Tom hatte. Aber dieser Zustand der Lethargie war Melanie ja nur allzu bekannt.
Und nun dieser blöde Feueralarm. Nicht der erste, seit sie in diese Schule ging.
„Wir haben einen Feueralarm!“, rief Herr Rindler, der heute gerade wieder einmal Unterricht in ihrer Klasse gab. Die Klasse murmelte nur genervt. Sie alle kannten dieses Ritual, dass sich mindestens einmal im Jahr wiederholte, nur zu genüge.
„Nerv, nerv“, „zu neunundneunzig Prozent wieder ein Test“, „auch das noch“, raunte es im Klassenzimmer.
„Diese Situation könnte ernst sein, also bitte meine jungen Damen und Herren, hinaus zum Sammelplatz“, rief Herr Rindler dem genervten Volk zu.
Der Sammelplatz war die große Wiese vor dem Schulgebäude, zu der nun die gesamte Schulschaft stürmen sollte.
Melanie und Lisa erhoben sich genau wie die anderen Schülerinnen und Schüler behäbig von ihren Plätzen – man kannte schließlich das Prozedere.
Melanie schnappte sich ihren neuen Taschenrechner, den sie gestern von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte und stopfte ihn sich in die rechte Hosentasche ihrer Jeans. Man konnte schließlich nicht wissen, wer überhaupt keine Lust auf diese Übung hatte und noch im Gebäude herumschlich, wenn sie draußen auf der Wiese standen.
„Warum muss Schule nur so nerven?“, fragte Lisa gerade Melanie, als sie mit den anderen auf den Flur hinaus liefen.
Draußen auf dem Flur war es chaotisch, auch wenn die meisten wussten, dass dies höchst wahrscheinlich nur eine Übung sein würde. Die Schüler und Lehrer eilten zügig die Flure entlang Richtung Ausgang. Da wurde geschubst und gedrängelt, einige taten dies absichtlich, manche wurden angestoßen und schubsten andere unbeabsichtigt, denen das gar nicht gefiel. Lautstarkes Getöse begleitete den Zug nach draußen.
Und dann war Lisa einfach weg. Sie war Melanie in dem ganzen Geschubste und Gedrängel einfach abhandengekommen.
Irgendwie kamen aber endlich alle auf dem Sammelplatz, der großen Wiese vor der Schule, an. Dicht gedrängt standen sie alle da. Melanie schaute sich um. Von Lisa keine Spur.
„So ein Mist“, dachte sie, „jetzt stehe ich hier blöd rum und noch nicht einmal meine Freundin kann mir die Zeit vertreiben!“
Resignierend hob sie ihre Arme und ließ sie an ihre Oberschenkel fallen. Dabei katapultierte sie jedoch ihren neuen Taschenrechner aus ihrer Hosentasche, der in hohem Bogen an ihr hochflog und dann im Sturzflug auf der Wiese landete.
Zum Glück weiches Terrain, dachte sie und beugte sich langsam hinunter, um ihr gutes Stück aufzuheben.
Doch während sie sich hinunter bückte, schoss ein Arm an ihr vorbei, griff nach ihrem Rechner und hob ihn auf. Dann hörte sie auch schon die Stimme: „Darf ich dir behilflich sein?“
In ihrer gebückten Haltung konnte sie nicht erkennen, wer ihr so zuvorkommend begegnete, denn der Helfer, dem eine männliche Stimme gehörte und die ihr bekannt vorkam, hatte sich wieder aufgerichtet, bevor sie es tat.
Als sie dann wieder oben war und nach rechts blickte um ihrem Helfer zu danken, formte sich unweigerlich ein Kloß in ihrem Hals: Daniel Fischer stand da, hielt ihr ihren Taschenrechner hin und hatte wieder dieses arrogante Lächeln im Gesicht.
„D… Danke“, stotterte Melanie und grinsend übergab er ihr den Taschenrechner.
Sie war wie vor den Kopf gestoßen: Vor drei Tagen hatte sie sich maßlos über sein Auftreten geärgert. Jetzt jedoch überraschte er sie. Wenn er auch nicht seinen Auftritt vor drei Tagen vergessen machen konnte, zeigte er ihrer Meinung nach mit dieser Aktion, dass da doch ein bisschen mehr als Arroganz in ihm war, ja wie es aussah, ehrliche Hilfsbereitschaft. Damit machte er jetzt wirklich ein wenig Boden bei ihr gut.
„Kein Problem“, sagte er, „ich sehe doch, wenn ein Mädchen in Nöten ist!“
Das kam nun nicht so gut bei ihr an, denn seine Arroganz schien damit wieder einmal durch. Warum hatte er dann nicht vor drei Tagen ähnlich reagiert? Andererseits musste sie sich auch eingestehen, dass hier etwas von einem Gentlemen durchschien, von einem stolzen Ritter, und das gefiel ihr auf alle Fälle.
Und das war nun auch der Auslöser, dass sie es schaffte, tatsächlich ihr Herz gegenüber Daniel ein wenig zu erweichen. Eigentlich, so musste sie sich eingestehen, kannte sie ihn doch noch gar nicht, hatte ihn aufgrund der dummen Situation vor drei Tagen komplett ignoriert. Vielleicht aber hatte Lisa doch Recht und er war gar kein so schlechter Kerl. Sie konnte es nicht wirklich wissen, wenn sie ihm keine Chance ließ. Und angesichts der gerade gezeigten Geste von ihm, beschloss sie, ihm eben eine solche zu lassen.
„Wir… haben noch gar nicht viel miteinander gesprochen“, stotterte sie nun langsam, „du bist also erst vor kurzem hierher gezogen?“
„Ja“, sagte er ziemlich locker, „meine Eltern haben sich vor einiger Zeit scheiden lassen und meine Mutter hat seit kurzem einen neuen Freund hier aus Hattingen. Und da bin ich mit hierher gezogen. Naja, schließlich gehe ich noch zur Schule und habe kein Geld für eine eigene Wohnung!“
„Und du machst auch nächstes Jahr Abitur?“, frage sie.
„Ja, ich versuch’s“, sagte er grinsend.
„Dann bist du wohl auch achtzehn?“
„Nee, neunzehn“, sagte er und sie sah wie er errötete. Das fand sie nun niedlich.
„Echt?“
„Ja, einmal kleben geblieben!“, sagte er peinlich berührt.
„Oh, und jetzt?“
„Alles im grünen Bereich – hoffe ich. Ich denke schon, dass ich das Abi nächstes Jahr schaffe! Aber jetzt mal weg von mir, was machst du so neben der Schule?“
„Na ja“, sagte sie langsam, „also ich ziehe gern mit meiner besten Freundin Lisa um die Häuser, lese gerne und fahre Fahrrad“.
„Hast du denn nicht ein richtiges Hobby?“, frage er ihrer Meinung nach ehrlich interessiert.
„Na ja…“ musste sie nun erneut stottern. „Das habe ich schon, aber die Allerwenigsten wissen davon. Das kommt daher, dass mich die meisten auslachen, wenn ich ihnen davon erzähle“. Und sie wusste wirklich nicht, warum sie jetzt ihrem aktuellen Erzfeind davon erzählen sollte.
„Na komme schon“, sagte er, „ich werde dich bestimmt nicht auslachen, ich möchte hier neue Freunde kennenlernen!“
Neue Freunde, dachte sie, mich als Freundin ??? Und langsam stiegen Zweifel in ihr auf, ob sie hier und jetzt wirklich alles richtig machte. Aber es fühlte sich richtig an. Darum offenbarte sie ihm ihr Hobby, von dem bisher nur Lisa und ihre Eltern gewusst hatten: „Also… ich sammle Steine!“ Jetzt war es heraus.
„St… Steine“, stotterte nun er.
„Ja, Steine!“, wiederholte sie selbstbewusst.
„Ja… was denn für Steine?“, fragte er leicht irritiert.
„Am schönsten finde ich große, glatte Steine. Man muss lange für sie suchen. Im Wald.“
„Aha“, sagte er.
„Du findest es nicht idiotisch?“, frage sie.
„Ja was denn?“
„Na so ein Hobby!“
„Nein, warum? Wenn du dadurch fröhlich bist!“
Fröhlich – eine Wortwahl die sie anrührte. Denn es waren nicht die Steine, die sie fröhlich machten, nein, sie wollte erst fröhlich werden . Und was ihr dazu fehlte, wusste sie schon sehr, sehr lange!
„Weißt du, ich habe ein ganz hohes Regal mit allen meinen Steinen darin!“, sagte sie etwas tranig.
„Oh, das ist toll“, meinte er.
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