Ihr Vater stand stocksteif vor ihrer Mutter da. Der braune Koffer stand auf dem Boden neben ihm. Die beiden blickten sich an und hatten beide Melanie noch nicht bemerkt, die an der leicht geöffneten Tür stehen geblieben war. Auch ihre Mutter nicht, die in Blickrichtung zu ihr stand.
„Ich… habe einen großen Fehler gemacht“, stammelte ihr Vater. „Ich hätte dich nie verlassen dürfen.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Und erst Recht nicht Gott!“
Immer noch stand er stocksteif da. Melanie sah, dass ihrer Mutter wieder einmal eine einzelne Träne über die Wange lief. Doch sie sah, dass in ihrem Gesicht Erleichterung und Glückseligkeit geschrieben stand. Das wollte sie zumindest in ihrem Gesicht sehen.
Ganz langsam erhob ihre Mutter die Arme, ihre Hände glitten ganz langsam vor zu seinem Gesicht. Dann endlich nahm sie es zwischen ihre beiden Hände, zog es zu sich heran und küsste ihn auf den Mund.
Melanie sah, wie sie die Augen schloss und ihr Vater sie nun auch mit seinen großen, starken Händen hinter ihrem Rücken umfasste. Die Hände ihrer Mutter lösten sich von seinem Gesicht und nun umfasste auch sie ihn hinter seinem Rücken. Sie sah, wie sie sich nun beide einander sehr fest drückten und hörte ein leises Wimmern ihres Vaters, von dem sie annahm, er gab es vor großer Erleichterung von sich.
Nach einer gefühlten, sehr langen Zeit lösten sich ihre Mutter und ihr Vater wieder voneinander. Wieder schauten sie sich in die Augen. Ganz fest. Dann hörte Melanie endlich die erlösenden Worte, die ihre kleine Welt zumindest für die nächste Zeit wieder zurechtrücken sollten: „Willkommen zu Hause“, flüsterte ihre Mutter.
Da konnte Melanie nicht mehr anders: Sie riss die Tür ganz auf, ihre Eltern blickten erschrocken zu ihr herüber, begriffen aber sofort, dass Melanie alles mitbekommen hatte.
Sie lief zu ihnen hinüber und beide beugten sich zu ihr hinunter, umschlungen sie mit ihren Armen, und so verharrten sie einen sehr, sehr langen Augenblick. Ja, sie waren wieder eine Familie. Und Melanie war sich sicher, dass nun auch ihre Mutter ihren Glauben wiederfinden würde.
Für Melanie war es der schönste Tag ihres bisherigen kurzen Lebens. Und sie hatte heute wichtige Dinge gelernt: Gott konnte helfen und vergeben, denn wie sonst, da war sie sich sicher, hätte er es so führen können, dass sein Vater sich wieder für ihre Mutter entschieden hatte und sie sich für ihn. Und Menschen konnten einander vergeben. Wie schwer die Sünde auch gewesen sein mochte...
Als Melanie ihre Steine ansah, durchflutete sie wenigstens jetzt ein wohliges Gefühl. Sie gaben ihr Kraft, auch wenn sie wusste, dass sie ihr nicht helfen konnten.
Wenn man den Alten zuhörte, erfuhr man oft, dass „die Jahre nur so vorbeigezogen sind“. Rückblickend waren die Jahre schneller vorbei, als man es als junger Mensch oft für möglich gehalten hatte. Auch wenn manche Tage lang erschienen, im Rückblick waren es Jahre, die einfach ins Land gegangen waren und man sich im fortgeschrittenen Alter fragte, ob man diese Zeit sinnvoll genutzt hatte, oder die Jahre in den Sand gesetzt hatte.
Melanie sollte genau dieses Gefühl in ihrem Leben noch erfahren. Jetzt, als sie achtzehn Jahre alt war und die vorletzte Klasse im Gymnasium besuchte, war sie zwar davon noch weit entfernt, trotzdem fühlte sie, dass viele Jahre ins Land gezogen waren, seit sie ein Kind gewesen war. Sie war mittlerweile viel mehr als ein Kind, sie hatte sich zu einer hübschen, junge Frau gemausert.
Doch sie hatte so viel Fragen in sich die sie nicht klären konnte. Sie sah gut aus, war eine der Klassenbesten und war stets höflich und zuvorkommend. Doch etwas fehlte: Der passende junge Mann an ihrer Seite.
Woran das auch immer liegen mochte, sie wusste es nicht. Aber immer mehr haderte sie mit sich selbst und suchte nach Gründen, die sie nicht fand.
Sie hatte viele Freundinnen, ja genau, eben Freundinnen aber nicht den einen Freund. Ihre Freundinnen hatten alle ihren Freund, manche auch ihren zweiten. Spitzenreiterin war ihre beste Freundin, Lisa Feller. Soweit Melanie wusste, hatte die gerade ihren vierten Freund und diesmal sollte es wohl die richtig große Liebe sein, das jedenfalls hatte Lisa ihr erst gestern erzählt.
Natürlich hatte sie das wieder heruntergezogen und ließ sie wieder an sich zweifeln. Auf der anderen Seite wollte sie natürlich auch nicht von zig Männern herumgereicht werden, so wie Lisa. Nein, das war es nicht was sie wollte – sie wollte die eine, echte, wahre und ernste Liebe.
Melanie sehnte sich so sehr danach, was lief nur schief in ihrem Leben?
Sie schaute sich in ihrer Schule jeden Jungen genau an, sie ging an Wochenenden aus, aber den Richtigen konnte sie nicht ausmachen. Und sie wusste auch tief in ihrem Innern woran das lag: Nicht daran, dass sie nicht kommunikativ oder freundlich war, sondern weil sie einfach nicht die Sympathie zu einem jungen Mann empfinden konnte, die die Grundlage für eine Freundschaft bot, die sich zu einer echten Liebe entwickeln konnte. Sie konnte einfach keinen Jungen erkennen, für den es wert gewesen wäre sich in Gefühlen zu verlieren. Darum blockte sie auch immer wieder einige Jungen ab, die sich ihr zwar näherten, die aber nicht ihr Interesse finden sollten.
Der Frust saß tief und breitete sich immer mehr aus. Warum kam einfach nicht der Richtige auf sie zu? Sie hätte sich auch auf ihn gestürzt, wäre er nur in Sichtweite gekommen, denn kontaktscheu war Melanie nicht. Aber wenn sie nun mal keinen passenden jungen Mann ausmachen konnte, würde sie auch auf keinen zustürzen, denn sie wusste, dass sie es auf jeden Fall spüren würde, wenn der Richtige vor ihr stand.
Natürlich bemerkten auch ihre Eltern den zunehmenden Frust ihrer Tochter. Gerade in diesem Jahr hatten sie ein besonderes Auge auf ihre Tochter, denn nächstes Jahr würde ihr Abitur stattfinden und die Vorbereitungen darauf liefen auf Hochtouren. Und schlechte Laune oder noch schlimmer echter Frust, waren für einen guten Schulabschluss sicher nicht förderlich, wenn Melanie auch mit unter den Klassenbesten war.
Oft hatten sie Melanie angesprochen, warum sie in letzter Zeit so oft frustriert und in sich gekehrt wirke. Und auch wenn Melanie schon den größten Teil ihrer Pubertät hinter sich hatte, bereitete es ihr Schwierigkeiten, offen mit ihren Eltern über ihr Problem zu reden.
Doch die Sorgen um Melanies Zukunft waren so groß, dass ihre Mutter es immer wieder versuchte: „Melanie, sag doch was dich beschäftigt, dein Vater und ich merken doch, dass etwas nicht stimmt!“
Trotzig, ganz ihrem Alter entsprechend sprudelte es eines Abends dann doch aus Melanie heraus: „Ich finde es doof, dass ich als einzige von unserer Mädchen-Clique noch keinen Freund habe!“
Mutter merkte dann an, dass sie nichts überstürzen solle und noch jede Menge Zeit habe, einen Mann fürs Leben zu finden. Natürlich ahnte auch ihre Mutter, dass diese Worte an ihrer Tochter abprallen würden, denn rückblickend wusste sie, dass es ihr in jungen Jahren mit ihrer Mutter genauso gegangen war. Deshalb setzte sie etwas versöhnlicher und verständnisvoller nach: „Schau doch mal in unserer Kirchengemeinde nach einem netten Jungen. Da gibt es einige, vielleicht gefällt dir ja einer!“
Daraufhin machte Melanie ein zweifelndes Gesicht und suchte schnell das Weite in ihr Zimmer, kopfschüttelnd bedacht von ihrer Mutter.
Die Kirche, ja, als Kind war sie lange Zeit dorthin gegangen, zum Kindergottesdienst. In den paar Jahren, seitdem ihr Vater wieder nach Hause gekommen war, und er und Mutter wie ganz früher ein Herz und eine Seele waren, und die Melanie schon fast wie den Alten so schnell vorbeigezogen vorkamen, hatte sie sich jedoch immer mehr von den Treffen und der Kirche zurückgezogen.
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