Es war mindestens ein Kolbenfresser. Jedenfalls ließ eine dunkle Qualmwolke nichts Gutes ahnen, als Paul am Heck die Motorklappe öffnete.
„Da geht nichts mehr. Verschrotten Sie das Ding, wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf!“
„Geht nicht, ich brauche ein Auto.“
Der Werkstattmann zupfte an seinem ölverschmierten roten Overall und ging um das Auto herum. Rostbeulen vom Dach bis in den Boden und den Rahmen, ein Trittbrett, das sich löste, eine Kurbel am Beifahrerfenster, die sich nicht mehr bewegen ließ. Dass man die Heizung nicht mehr abstellen konnte, war noch das geringste Übel. „Wie kam der überhaupt durch den TÜV?“ Er empfahl Paul einen gut erhaltenen Wartburg 353. 50 PS, Baujahr 1986, TÜV neu. „Für Sie ein Sonderpreis, 750 Euro. Der fährt noch volle Kraft. Sozialistische Wertarbeit.“ Ein Wartburg. In Pauls Kopf erschien unverzüglich Martin Luther als Junker Jörg und er geriet einen Moment ins Schwanken. Er rief Leonhard an, um sich zu beraten.
„Der Mann hat völlig Recht“, tönte Leonhard umstandslos. „Echt … echt ...“ hörte Paul die Papageien in Leonhards Hintergrund echoen. „Schmeiß sie endlich weg, deine alte Karre. Stinkt doch bloß wie eine Dreckschleuder und säuft Sprit wie ein Alkoholkranker.“
„Du meinst wohl deinen Jaguar“, konterte Paul.
Leonhard lachte. „Der steht im Gegensatz zu deinem Schrotthaufen nicht kaputt in einer Werkstatt, sondern fahrtüchtig in unserer Tiefgarage.“
Aber Paul war sich schon im Klaren. Er liebte seinen alten, käferbuckeligen, momentan nicht mehr fahrbaren Untersatz umso mehr, je mieser und madiger ihn Leonhard am Telefon zu machen suchte. Und, um sein romantisches Gefühl mit einem unschlagbar rationalen Argument zu tarnen, griff er in das alleroberste Regal seines ordentlich sortierten Vorrats an Begründungen.
„Leonhard“, sprach er, „hier geht es ums Prinzip. Das verstehst du nicht. Ich bin und bleibe ein entschiedener Gegner der Wegwerfgesellschaft. Bei mir werden keine Ressourcen verschleudert.“
Mit dem Käfer war Paul schon weit in die Türkei, nach Sizilien und bis Granada gefahren. Was bedeutete da schon ein bisschen Rost? Für ihn bildeten die bräunlichen Beulen eine Art Patina, die obendrein fabelhaft zusammenpasste mit seinem eigenen rötlichen Lockenkopf. Sicher, die Autohaut wirkte etwas angegriffen. Aber hatten sich nicht auch ein paar graue Tupfer in sein Haar eingenistet nach Charlottes Tod? Natürlich, der Lack war etwas ab, aber doch immer noch ähnlich tragfähig wie sein alter blauer Dufflecoat, zu dem er seit Jahrzehnten greifen konnte, wenn ihm kalt war. Sein Käfer war ganz einfach ein wunderbares Gefährt. Wer das nicht erkennen konnte, dem war nicht zu helfen.
Paul war nun ganz mit sich im Reinen. Er bestand auf der Reparatur, drang darauf, sie zwischen alle anderen Kundenaufträge zu schieben, und hoffte, es werde den Männern der Garage gelingen, auf die Schnelle einen Austauschmotor sowie die erforderlichen Ersatzteile aufzutreiben, quasi von heute auf morgen. Danach fuhr er mit dem Taxi ins Hotel am Schlosspark. Die Spesen waren kein Problem. Das hatte Dr. Buchsteiner versprochen.
Sein intuitives Vertrauen in die Leistungsfähigkeit dieser leicht abgehalfterten Werkstatt am Stadtrand von Gotha gründete auf einer Geschichte aus der DDR, die ihm Leonhards Freundin Karla kürzlich erzählt hatte. Karla war Kinderärztin und in ihrer Geschichte ging es um Rudolf. Damals war ein reger Handel im Gange, unter der Hand, Ware gegen Ware. Geld war nicht viel wert. Und dieser Rudolf träumte davon, Medizin zu studieren, selbst dann noch, als er das ihm zugewiesene Studium der Ökonomie längst absolviert hatte und mit der Leitung eines Delikatladens betraut worden war. Karlas Geschichte handelte davon, wie sich damals eine original ungarische Salami aus Rudolfs Delikatladen in eine Bohrmaschine und die Bohrmaschine wiederum in einen Studienplatz für Medizin verwandelte, und wie sich dank dieser wunderbaren Metamorphose Rudolfs Traum von seinem Traumberuf am Ende doch erfüllte. Er wurde Urologe. Dass ihn seine Freunde bis heute „Puller-Rudi“ rufen, wie Karla gestand, störte sein Glück nie.
Paul hatte gelacht, als er die Geschichte hörte. Aber nun setzte er seine ganze Hoffnung darauf, dass derart grandiose Organisations- und Improvisationskünste nicht einfach untergegangen sein konnten mit der von ihm so oft gescholtenen DDR. Zwei Tage später brauste er frohgemut nach Eisleben weiter. Mit einem gebrauchten Austauschmotor, einer funktionstüchtigen Fensterkurbel, einer Heizung, die man auch wieder abstellen konnte und einem angeschweißten Trittbrett. Sogar eine kleine Entrostung und Nachfärbung hatte die Werkstatt hinbekommen. Das Dunkelblau der Käfer-Karosserie kam wieder besser zur Geltung. Ich muss auch meinen Dufflecoat mal wieder zur Reinigung bringen, dachte Paul und umarmte den Automechaniker zum Abschied, heilfroh, sein geliebtes Vehikel wieder zu haben. Er hatte dafür ein bisschen mehr bezahlt als der Wartburg 353 gekostet hätte. Aber das war ihm egal.
Gut gelaunt erreichte er Eisleben, wo gerade ein neues Luther-Zentrum eröffnet worden war, bestückt mit Archivalien, Dokumenten und Material, aus allerlei lokalen Lagerstätten zusammengetragen, systematisiert und katalogisiert. Paul suchte gezielt nach Spuren der Konfrontation zwischen Kaiser Karl V. und Martin Luther auf dem Wormser Reichstag 1521. Da müsste es historisch noch einige weiße Flecken geben, dachte er, die er bunt einfärben könnte aufgrund später verfasster Berichte, Aufzeichnungen, zeitgenössischer Einschätzungen. So wäre dem Drama von Worms vielleicht eine Wendung zu geben. Schließlich war manches noch reichlich rätselhaft: Wie kam es, dass dieser Kaiser das zugesicherte freie Geleit tatsächlich einhielt? Dass es in Worms anders lief als hundert Jahre zuvor bei dem armen Jan Hus in Konstanz? Hatten die Diplomaten der Landesfürsten ihre Hände im Spiel? Welche Absprachen waren getroffen worden? Oder hatte Luther wirklich alles auf eine Karte gesetzt? Hatte er es wirklich riskiert, als Ketzer verbrannt zu werden?
Paul kam nicht weit. Was ihn interessiert hätte, fand er nicht. Manches schien ihm wie willkürlich beiseite geschafft, anderes wohl einfach verloren in den Irrungen und Wirrungen der Jahrhunderte. Mit Sicherheit hatte es eine Rolle gespielt, dass viele in Luther seinerzeit einen Heiligen sahen und sich sein Sterbehaus unmittelbar nach seinem Ableben in einen Wallfahrtsort verwandelte. Alles, was von seiner Hand war oder was er je berührt haben konnte, mutierte zu einer anbetungswürdigen Reliquie. Ein Kult brach los, der bei dem Reformator selbst ganz sicher blankes Entsetzen ausgelöst hätte. Und ein ordentliches Donnerwetter. Mehr als 150 Jahre lang schnitzten Pilger kleine Splitter aus seinem Sterbebett und verehrten sie götzengleich in ihren Gemeinden, bis die lutherische Geistlichkeit einschritt und dem Spuk ein Ende machte. Alles, auch Drucke und Handschriften, wurde weggeräumt und im Verlauf der Jahrhunderte weiß der Teufel wohin gebracht. Man schloss das Haus, verbrannte das Bett. Ganz radikal. Pilgerglauben war des Teufels, katholischer Irrglaube, auch wenn er evangelisch daherkam.
Paul hatte keine Chance, hier noch etwas aufzustöbern, das halbwegs authentisch schien. Er blätterte ungeduldig und leicht genervt in einem Findbuch. Aber die Stelle im Regal mit der Handschrift, zu der eine Faszikelnummer hätte führen müssen, war leer. Eine Lücke. Seltsam. Stattdessen fand der Archivar einen Zettel mit dem Hinweis, dass eine Reihe von Luthers Handschriften in die Forschungsbibliothek der Universität Erfurt nach Gotha verlegt worden waren. Paul verschaffte sich auf dem Laptop eine erste Orientierung über den digitalen Katalog. Aber das war nicht sein Metier. Bei Paul waren Forschungen erst dann seriös, wenn er Papier mit Händen greifen konnte.
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