Ruhestand hieß auch: Paul Wiesensee schrieb nur noch, was ihn wirklich bewegte. Ein wahres Luxusleben, schwärmte er, als er mit Irmgard zur Bar hinüber schlenderte. Er unternahm jetzt mehr mit seinen Enkeln, mit Malu, Ole und mit Lina, mit der er an ruhigen Nachmittagen sein spät entdecktes Talent zum Basteln auslebte. Dabei war Malu immer noch seine Lieblingsenkelin. Mit ihr war er oft ins Märchentheater gegangen oder hatte sie zur Kinderchorprobe in die Kreuzkirche begleitet, ihr vorgelesen, vorgesungen, Gedichte gereimt, Quatsch gemacht. Jetzt, wo ihr Eintritt in die Pubertät nicht mehr zu übersehen war, neigte Malu deutlich mehr zu eigenen Unternehmungen, war, zu Pauls Verdruss, lieber mit ihren Tennisfreundinnen unterwegs als mit ihm. Aber er sah grummelnd ein, dass solche Veränderungen dem natürlichen Lauf der Dinge entsprachen.
Eine Konstante blieb hingegen sein spezielles Verhältnis zu Leonhard. Der stammte wie er selbst aus dem Südwesten, hatte aber sein Glück im Nordosten der vereinigten Republik gefunden, als Privatier an einem Seeufer einer ehemals preußischen Residenz. Sein Glück hieß Karla. Der ungewöhnliche Bund der Freunde hielt auch solche Entfernungen aus. Er reichte bis an den Anfang der 1970er Jahre zurück, als beide in Heidelberg studiert und ihre journalistische Laufbahn gestartet hatten. Leonhard promovierte zum Dr. phil. und machte als Chefredakteur diverser Polit-Magazine Karriere, Paul blieb als Lokalredakteur seiner Kurstadt treu. Mindestens einmal in der Woche telefonierten sie. Und immer wenn es einem von beiden dringlich war, dann ließ er es bei dem andern klingeln, tagsüber und auch noch nachts, wenn es nottat. Manchmal hörten sich ihre Gespräche an wie die eines alten Ehepaars. Mal ging es herzlich zu, mal zänkisch, mal schonungslos. Speziell politische Gefechte ̶ Leonhard ein linksliberaler Altachtundsechziger, Paul ein traditioneller Sozialdemokrat ̶ gingen nicht immer ohne Schrammen ab.
Aber mit den Jahren ging es politisch immer weniger zur Sache. Inzwischen galten ihre Vorlieben ̶ neben lukullischen Genüssen ̶ eher dem Fußball, den sie als Spiegel wirklichen Lebens betrachteten, sowie schöngeistigen Dingen, die das wirkliche Leben zu transzendieren vermochten. Sie gönnten sich Bundesliga, gerne auch im Frauen-Fußball, Bach, Beethoven, Schubert, Schiller, Fontane und Hölderlin, historische Biografien auch und Kriminalromane zwischendurch, machten sich auf dies und jenes aufmerksam. Leonhard mochte darüber hinaus seine Freundin Karla, die vor allen anderen und über die Maßen, aber auch Jazz, Anna Mühe und Shakira, zumal wenn sie auf Spanisch sang. Pauls spezielle Neigungen galten seinen geliebten Töchtern und Enkeln, seinen Büchern, die sich in seiner Wohnung bis an die Decke stapelten, und ganz besonders, inzwischen wieder, seinen nächtlichen Schachpartien auf schach.de. Seit das so war, gerieten sich die Freunde seltener in die Haare. Paul hielt das für einen Ausfluss ihrer Altersweisheit, Leonhard für die Folge gesunkener Hormonspiegel.
Seit beide nicht mehr tagtäglich in den Berufsstress eingespannt waren, trafen sie sich wieder häufiger. Auf halbem Wege. In Weimar zum Beispiel, in Meiningen oder Erfurt. Und seltsamerweise immer wieder in Gotha. Dort hatten sie einst bei einem gemeinsamen Ausflug, noch zu realsozialistischen Zeiten, einen Broiler vertilgt. Paul würde nie die vielen nutzlosen Formulare vergessen, die sie ausfüllen mussten, um endlich an ihr Hähnchen zu kommen. Mit fortschreitendem Alter bestand Paul noch eindringlicher darauf, schon immer gewusst zu haben, dass dieses System untergehen würde. Auf Gelegenheiten, dies in aller Deutlichkeit auszusprechen, verzichtete er selten. Und Leonhard musste sich dann wieder einmal anhören, er sei damals nicht mit solcher Weitsicht gesegnet gewesen. Pauls notorisches DDR-Bashing ging Leonhard zuweilen auf den Keks.
***
„Leonhard, hör zu, ich habe gerade einen saustarken Perser abgemurkst. Elo 1820! Der hat am Ende nur kurz gezappelt.“
Leonhard brummelte ein bedeutungsloses „Hm“ ins Telefon. Im Hintergrund hörte Paul Leonhards steinaltes Graupapageien-Pärchen lärmen, Friedel und Rolli, die undefinierbare Schreie von sich gaben. Sie hatten immer noch ihre unüberhörbare Freude daran, jedes Geräusch nachzuäffen, vorzugsweise Klingeltöne von Telefonen, aber auch, was Menschen so alles von sich gaben.
Einmal mehr war Paul enttäuscht, dass Leonhard so spröde auf seine Schacherfolge reagierte. Selbst nach so vielen Jahren verstand es sein Freund nicht, Pauls Genialität im Kampf gegen die Denksport-Goliaths dieser Welt angemessen zu würdigen. Nur wenn Leonhard überaus gut gelaunt war, brachte er mal einen Glückwunsch über die Lippen. Allenfalls hörte er sich noch die Berichte von den virtuellen Weltreisen an, die Paul in langen Nächten auf den Online-Servern von schach.de absolvierte. Eines Tages würden sie zusammen nach Kalmückien reisen, einen buddhistischen Staat am Rande Europas, wo an jeder Straßenecke ein Schachbrett steht und man schon in den Windeln das Schachspiel erlernt.
„Vielleicht springt in Kalmückien der Funke auf dich über“, sagte Paul, der seine Animationsversuche nicht aufsteckte.
„Ich dachte immer, ihr Kriegsdienstverweigerer seid Pazifisten. Aber diese Haltung scheint bei dir passé zu sein.“
„Niemals. Leonardo! Ein Schachbrett ist das unblutigste Schlachtfeld der Welt.“
Leonhard sprang auf dieses Thema einfach nicht an. Stattdessen fragte er umso hartnäckiger nach Pauls letzter Reise in die reale Welt, einer Journalistenreise nach Rom, wo Paul eine imponierende italienische Kollegin namens Maria kennengelernt hatte. Sie arbeitete für Radio Vatikan. Unvorsichtigerweise hatte er Leonhard gestanden, dass sich bei ihm während dieser Begegnung ein eindeutiges Gefühl zurückgemeldet hatte, eine Sehnsucht, die er schon so gut wie vergessen hatte oder vielleicht auch traumatisch verdrängt, aber die er nun eindeutig wiedererkannte. Seither gab Leonhard keine Ruhe, hörte nicht auf, ihn auf die schöne Italienerin anzusprechen, wollte dauernd von ihm wissen, ob sich denn da etwas anbahnen könnte. Aber so war es nicht.
Diese italienische Kollegin und er, sie hatten sich spontan zusammengetan, weil sie sich umgehend und ausnehmend sympathisch fanden. Für Paul war es ungeheuer faszinierend, von ihr die neuesten Geschichten aus dem Innenleben des Vatikans zu erfahren, einer ihm völlig fremden und bis dahin unzugänglichen Welt. Ihre Schilderungen kamen ihm, aufgewachsen in einer protestantisch deutschen Arbeiterfamilie, vor wie Rauchzeichen aus der Verbotenen Stadt des Kaisers von China. Oder aus dem Moskauer Kreml. Ein ungeheurer, geheimnisvoller Machtapparat, der sich hinter kaum zu durchdringenden Mauern verbarg und nur Spekulationen Tür und Tor öffnete. Gespannt lauschte Paul Marias Schilderungen. Und ließ sich zugleich einhüllen von ihrer angenehm lebendigen Wärme, die ihm wohltat wie das warme Wasser der Caligula Therme. Aber er hatte es gespürt: Ihr Interesse an ihm hatte nicht dem Mann gegolten. Darauf wies Paul seinen Freund nun schon zum xten Male hin. Aber der glaubte ihm einfach nicht.
Paul stellte das Telefon in die Ladestation zurück und fasste sich an den Hals. Er tastete nach seiner Narbe. Das musste er tun. Jedesmal, wenn er am Telefon Leonhards Stimme vernahm, musste er diese Stelle an seinem Hals befingern. „Immerhin atmest du noch“, neckte ihn Leonhard. „Sei doch froh. Manch einer hätte dich sonst vermisst.“
Die Kerbe an seinem Hals war das Relikt einer Notoperation. Leonhard und er hatten eigentlich ein Festmahl feiern wollen, eine gegrillte Dorade, krönendes Fest für den Gaumen, Abschluss eines gelungenen Zugs durch das Nachtleben von Paris und versöhnlicher Schlusspunkt einer schwierigen Recherche, die auf dem Friedhof von Montparnasse zu Ende gegangen war. Doch um ein Haar hätte der Spaß ein tödliches Ende genommen. Nur ein entschiedener Schnitt in Pauls Luftröhre hatte ihm das Leben gerettet. Der Chirurg förderte ein mehr als zwei Zentimeter langes Drahtstück zu Tage, das offenbar aus einem billigen Grillpinsel in den Fisch geraten war. Seither konnte Paul es nicht lassen, das Abtasten dieser roten Rille an seinem Hals.
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