Nach und nach geriet Fabio in Marias Bann. Auch, weil sie in seinem klugen Kopf eine neue, andere Sichtweise auf das Geschehen um ihn herum eröffnete. Bislang, in seinem eigenen jungen Leben, hatte er die Kirche und all ihre Repräsentanten und Mitglieder, die Priester, die Schwestern, die Ordensleute, seine Lehrer und Professoren, aber auch all die Monsignori und Würdenträger der Kurie als überaus freundliche, zugewandte, fürsorgliche Freunde und Förderer kennengelernt, die ihm immer nur Gutes getan hatten. Und dennoch, Maria hatte recht. Wenn Religion sich mit Macht und Gewalt vermählte, war daraus noch nie etwas Gutes, etwas Gottgewolltes entstanden, weder für das Seelenheil des Einzelnen noch für die Heilige Kirche im Ganzen, noch für die Welt insgesamt. Der Heilige Vater musste diesen Brei erhitzen, bis das Gift herausgekocht war.
Dass Fabio so zu denken begann, veränderte auch sein eigenes Tun. Wenn er den öffentlichen Lesesaal des Vatikanarchivs durchquerte, wo sich an Tischpulten eifrige Köpfe über aufgeschlagene Folianten beugten, wurde ihm jedes Mal bewusst, wie privilegiert er war, hier arbeiten zu dürfen, wo Schätze wie das ‚Dictatus Papae‘ aus der Zeit des Investiturstreits ruhten, oder die Bannbulle ‚ Decet Romanum Pontificem‘‚ die Luther exkommunizierte. Konnte es richtig sein, die kilometerlangen Regale des Geheimarchivs nur unter der Maßgabe zu durchsuchen, sich gegen theologische Angriffe im anstehenden Luther-Jubel aufzurüsten? War es nicht viel spannender, auch nachzusehen, wie lange dieses unheilvolle Konglomerat von Religion, Macht und Gewalt, Krieg und Verbrechen schon wirkte und ob es nicht eine unheilige Klitterung der gesamten Kirchengeschichte zur Folge hatte?
Während Fabio mit seinen Nachforschungen auf Abwege geriet, die seinem Vorgesetzten, hätte er davon gewusst, ganz sicher nicht behagt hätten, verfolgte er mit wachsender Sympathie, wie der neue Papst tatsächlich daran ging, den alten Mächten das Wasser abzugraben. Wie er von seinen Hofschranzen, den Sekretären und dem Hauspräfekten die persönliche Kontrolle darüber zurückeroberte, wer persönlichen Zugang zu ihm haben konnte und wer nicht, wer ihn informieren, beraten und begleiten durfte und wer nicht. Wie er zum Telefon griff und Mitarbeiter einfach selber anrief, wenn er etwas von ihnen wollte. Oder sie, außerhalb jedes Protokolls und jenseits jedes hierarchischen Dienstwegs, kurzerhand persönlich in ihrem Büro aufsuchte. Und wie sich im Vatikan nach und nach ein neues Klima entwickelte: Dieser oberste irdische und geistliche Herr wohnte nicht protzig im päpstlichen Palast, sondern bescheiden in zwei einfachen Zimmern des Gästehauses Sanctae Marthae. Er aß in der Mensa gemeinsam mit allen andern. Er war mitten unter seinen Leuten.
Nicht nur Fabio und Maria, die einander jeden Tag in ihrer Wahrnehmung bestärkten, waren davon mächtig beeindruckt. Bei vielen Mitarbeitern der mittleren und unteren Ebene des vatikanischen Kirchenapparats, so schien es Fabio noch deutlicher als Maria, begann die Stimmung allmählich zu Gunsten des neuen Papstes zu kippen. Um so mehr, als er nicht davor zurückschreckte, unter ihren höchsten Vorgesetzten aufzuräumen, unter den purpurroten Würdenträgern. Mit der Aufhebung ihrer Immunität vor allem, die die Kirchenfürsten jahrhundertelang über das Gesetz gestellt hatte. Und mit der Einführung eines Gerichts für die Bischöfe, die Missbrauchsfälle gedeckt hatten und die nun ihre strafrechtliche Verfolgung zu erwarten hatten.
Je weiter der Argentinier ging, desto besorgter beobachtete Maria das Hauen und Stechen, das sich unter den Machthabern in der Kurie abspielte. „Fabio, das ist ein gnadenloser Kampf: Transparenz gegen Geheimpolitik, Machterhalt gegen christliche Demut, Pfründe und Bürokratie gegen Kirche von unten. Das macht mir Angst. Mehr als Angst. Im Vatikan ist schon mancher ganz plötzlich gestorben. Auch mancher Papst.“
Wenn Maria so redete, versuchte Fabio sie zu beruhigen und zu besänftigen. Aber längst hatte sie ihn angesteckt mit ihren Befürchtungen und Ängsten. Wer wie die beiden Verstand im Kopf und Gott im Herzen hatte, dem war klar: Dass der Papst diesen ganzen Sumpf so offen angeprangert hatte und dann tatsächlich ans Werk gegangen war, ihn trockenzulegen, brachte auch den Heiligen Vater selbst in Lebensgefahr.
In allen Abteilungen und Sektionen spalteten sich die Lager. Es war kaum noch möglich, sich herauszuhalten, zumal das Hierarchieprinzip weiter funktionierte. Auch Fabio und Maria konnten nicht umhin, es ihren Vorgesetzten recht zu machen. Aber wo standen die? Fabios Chef zum Beispiel, Monsignore Brunetti, gab sich ihm gegenüber stets freundlich und zugewandt. Und war doch undurchschaubar. Ein perfekter Kommunikationsprofi. Wenn ein Gespräch auch nur in die Nähe der Kampflinien und Fronten geriet, die mittlerweile unübersehbar waren, verschwand er in einer verbalen Wolke nichtssagender Unverbindlichkeit. Fabio konnte nicht ausmachen, ob sein Monsignore überhaupt eine eigene Meinung hatte und sich nur versteckte, um am Ende zu überleben. Oder ob er zu denen gehörte, die um ihre Karriere, Position und Pfründe fürchteten. Oder zu denen, die auf eine Wiederkehr seines deutschen Vorgängers hofften. Oder gar zu den Fundamentalisten wie den erzreaktionären Piusbrüdern in ihrem Alleinanspruch auf den rechten Glauben.
Viele dieser Franziskus-Feinde versammelten sich hinter theologischen Autoritäten wie dem ehemaligen Münchner Bischof Lothar Maier, jetzt Präfekt der Glaubenskongregation, der – wie zur Lutherzeit vor 500 Jahren – ein weiteres Schisma der Kirche heraufziehen sah. So unvorstellbar war das nicht mehr, auch nicht mehr für Fabio und Maria, die in Franziskus geradezu eine Wiederauferstehung von Martin Luther zu erkennen glaubten, nur diesmal an der Spitze der Kirche selbst.
Sie mussten vorsichtig sein in ihrem Enthusiasmus. Auch sie durften nicht einfach aus der Deckung gehen. Denn immerhin rührte dieser Mann aus Südamerika nicht an Fassaden. Er rüttelte an den Säulen eines in Jahrtausenden gewachsenen Imperiums, das ohne Zweifel zurückschlagen würde.
Als Fabio zu ahnen begann, wie, war es für ihn zu spät.
***
Er spürte das Tier an seinem Rücken. Es kroch an ihm hoch, überquerte seine Schultern, versuchte am Halskragen unter sein Hemd zu kriechen. Es fühlte sich groß und fett und ekelhaft an. Fabio riss seinen Oberkörper hoch und schlug sich mit den gefesselten Armen gegen den Hals. Es war eine Ratte. Sie machte einen Satz, huschte blitzschnell zur Tür und verschwand. Fabio rutschte mit dem Rücken so weit wie möglich zurück an die Wand und versuchte, zurückzukehren in seine Gedankenwelt, sich abzulenken von dem Gestank, der ihn ekelte, den Kopfschmerzen, die ihn marterten, den Fesseln, die in seine Haut schnitten. Sich herauszulösen aus seinem Körper, ihn zu verlassen, oder wenigstens sich von ihm so weit zu entfernen, dass seine Qualen ihn nicht mehr erreichen könnten. Er war ein Mann des Geistes. Und seinen Geist konnten sie nicht fesseln, seine Gedanken waren frei, auch wenn diese Männer ihn hier gefangen hielten.
Dieser verfluchte Vespucci und seine Machenschaften, diese erpresserischen Carnaro-Papiere ... Wollen sie mich wirklich zum Schweigen bringen, wenn ich ihnen diesen vermaledeiten Fund nicht ausliefere? ...Wollen sie mich umbringen?
Er mühte sich, seine Gedanken noch einmal weg schweifen zu lassen, hinfliegen zu Maria. Aber es gelang ihm nicht. Er fing an zu beten. Doch die Stiche in seinem Kopf holten ihn unbarmherzig zurück. Und die Geräusche der Männer, die wiederkamen. Einer riss ihm brutal den Klebestreifen vom Gesicht und den Knebel aus dem Mund:
„Du weißt, dass du stirbst. Dir kann es also egal sein. Aber es gibt noch Menschen, die am Leben sind und auch sterben könnten. Also sag schon, wo ist dieser alte Fetzen Papier?“
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