Er schüttelte den Kopf. Es war nur noch ein Reflex. Und er schmeckte schon wieder den üblen Geschmack in seinem Mund, bevor er hinausschwamm in den schwarzen Ozean.
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Eisleben in der Grafschaft Mansfeld, 18. Februar 1546, Martin Luthers Sterbezimmer in einem Haus am Markt.
Er weiß es. Man würde weiter Lügen verbreiten über ihn, über sein Leben, über seinen Tod und über seinen Tod hinaus. Selbst seine Getreuen, seine Freunde, seine Brüder und Schwestern im Glauben, sie alle würden lügen, fälschen, die Wahrheit verbiegen. Seine Getreuen würden lügen, um ihn und sein Vermächtnis zu schützen. Vor allem aber seine Feinde würden lügen, lügen für den Teufel und für den Antichristen. Um ihn und sein Werk des wahren Glaubens aufzuhalten oder gar zu zerstören. Sie würden die abscheulichsten Widerlichkeiten über ihn verbreiten. Keine Abartigkeit, kein Frevel, keine Todsünde wäre ihnen zu schade, wenn sie ihn und sein Werk nur verleumden könnten.
Aber sie würden keinen Erfolg haben. Die Wahrheit würde ans Licht kommen. Er fühlt es tief im Innern seines schweren Körpers, dessen Last ihn fast erdrückt. Und, für einen Moment, breitet sich in seiner Seele nach all seinen Kämpfen Frieden aus. Fast Stille.
Lügen sind nicht die letzten Worte. Selbst mit meinen eigenen Lügen und all meinen schweren Sünden werde ich Gnade finden. Der Herr hat mich erkannt. So wie ich ihn. Es ist nichts mehr zwischen uns.
Er wälzt sich auf seinem Lager, stöhnt, röchelt, eine kalte Schweißperle rinnt ihm von der Stirn, tropft in sein Auge. Sie brennt sich unter sein Lid. Sie könnte es ausbrennen, dieses Auge. Es wäre kein Schaden. Dieses Auge sieht schon lange nichts mehr. Aber es hilft ihm, dieses Brennen, hält ihn wach, bewahrt ihn davor, sich einfach dem süßen, schwarzen, traumlosen Schlaf hinzugeben, diesem Verführer, der Ohnmacht, die ihm der Teufel immer wieder schickt, die ihn lockt und hinunterziehen will in die Dunkelheit, ihm winkt, bereit, ihn zu erlösen aus seinen Schmerzen, seiner Enge, seiner Angst, zu ersticken in seinem eigenen Leib. Er tastet nach seinem Ätzstift und ritzt ihn in sein linkes Bein, in die künstliche Wunde hinein, deren Pein seine Schwindelanfälle bekämpft. Ohnmächtig, ja so hätten sie ihn gern, seine Feinde und die Gespenster, die sie ihm schicken. Aber er ist ein mutiger Kämpfer. Immer noch. Selbst jetzt, so erbärmlich er sich fühlt. Eine neue Beklemmung drückt ihn nieder, als setze sich der Teufel selbst auf seine Brust. Ohnmächtig will er seinem Gott nicht gegenübertreten. Auf keinen Fall.
Man hat ihn umgebettet von dem kleinen Schlafzimmer nebenan auf die lederne Ruheliege hier im Wohnraum. Er weiß, sein irdischer Weg geht zu Ende, hier und jetzt. Unruhe treibt ihr Unwesen im Raum, stört. Sein Sermon von der Bereitung zum Sterben kommt ihm in den Sinn, den er damals verfasst hat für seinen Kurfürsten. Ja, es ist wirklich so, wie er es beschrieben hat, vor mehr als zwei Jahrzehnten schon. Wer auf Gottes Gnade vertraut und auf Jesus Christus, den kann das irdische Ende nicht schrecken. Ja, die Schmerzen quälen, sein Körper verschlingt sich innerlich, die teuflischen Geister suchen ihn heim. Aber da ist keine Angst. Kein Entsetzen. Der gnädige Gott wird ihm ein Tor öffnen, er wird eingehen in reines Licht, ewiges, in unendliche Leichtigkeit, ewige, in ein himmlisches, ewigliches Leben. Und doch ist es für ihn nun ganz anders gekommen, als er es sich damals vorgestellt hat in seinem Sermon. Denn er stirbt nicht für sich allein.
Man wird eine Totenmaske von ihm nehmen oder ein Bild zeichnen, um sein Antlitz in dem Augenblick zu bewahren, in dem er Gott gegenübertritt. Als Gewähr für die ganze Welt, dass er gen Himmel fährt. Und nicht in die Hölle. Sein friedliches Antlitz im Tod, ein Beweis für seine Anhänger und gegen seine Feinde in Rom. Seine letzte Stunden würden alle in ihren Bann ziehen: Freund wie Feind. War er friedlich gestorben wie ein Heiliger? Oder unter Flüchen und Verwünschungen, weil er als Ketzer schon das Fegefeuer erblickt hatte?
Ich kann nicht so weggehen, wie ich möchte. Allein im Angesicht des Herrn. Nur für mich. Immer noch, selbst jetzt, elend liegend, stehe ich, kann nicht mehr anders, auf der Kanzel, vor der Gemeinde, predige vor aller Augen und Ohren. Mein Leben ist nicht für mich, mein Sterben gehört nicht mir, sondern Ihm, dem Herrn, und all den Seinen.
Der Druck auf seinem Herzen krampft sich in den ganzen Leib hinein, krallt sich fest, nimmt kein Ende mehr. Er spürt Hände, die an ihm zerren und zupfen, warme und kalte Tücher an ihm reiben, hört seinen Namen rufen. Wie sie sich an ihm zu schaffen machen, ist unangenehm, stört ihn in seiner letzten Hinwendung zu seinem Herrn. Und tut zugleich so gut. Seine Lieben sind um ihn.
Ist auch Antonius da?
Er spürt die Menschen im Raum, ertastet seinen Freund Justus Jonas an seiner Seite, der alles festhält und aufzeichnet, was noch geschieht, hört aus der Ferne die Stimmen seiner Söhne, Paul und Martin sind bei ihm. Und wieder überkommt ihn diese Dämmerung. Er sehnt sich in sie hinein. Sie würde ihn so warm umfangen wie einst seine Katharina. Und ihn schließlich erlösen aus seinem irdischen Dasein, befreien von diesem schweren, aufgedunsenen Körper, der so viel in sich hineingefressen hat und wieder ausgespien, der ihm so reichlich Lust und Wohlergehen war wie Hölle und Qual. Befreien von der gefräßigen Gicht in seinen Gliedern, von den stechenden Schmerzen in der Brust, die sich in Wellen von Nadelstichen verwandeln und in den linken Arm ergießen, befreien von seinem notorischen Schwindel, seinen ewig quälenden Harnsteinen.
Er ist mein Kerker geworden, dieser Leib, meine Folterkammer.
Er fühlt, wie Angst in seinen Kopf hineinzukriechen versucht, Schmerz, Beklemmung, fühlt, wie die teuflische Marter in ihm Oberhand gewinnen will. Das darf er nicht zulassen. Sein Kampf mit sich und dem Teufel ist noch nicht zu Ende.
Martin Luther spricht ein Gebet, nein, sprechen kann er es nicht mehr, auch sein Atem geht so schwer, trägt seine Worte nicht länger hinaus in die Welt, wie er es ein Leben lang konnte, sein Atem versiegt und mit ihm die Wortmacht, die ihm geschenkt war als Gabe Gottes. Es ist eher ein Murmeln, ein Lallen, das nur er selbst noch versteht. Aber er kann in dieser Schwäche seinen Gott nicht finden, gerät auf Abwege, die ihn wegführen von ihm. Wieder greift die Ohnmacht nach ihm.
Er kämpft an gegen die Finsternis. Immer schon. Auch auf dem Weg hierher nach Eisleben war das so. Seine letzte Reise. Am 23. Januar waren sie in Wittenberg aufgebrochen, er zusammen mit seinen drei Söhnen Johannes, Martin und Paul. Und mit Johannes Aurifaber und Ambrosius Rudtfeld, seinen getreuen Mitarbeitern. Vom 24. bis 27. Januar hatten sie in Halle bei seinem Freund Justus Jonas Station gemacht. Sie wären ohnehin nicht weitergekommen. Ein wildes Hochwasser verwandelte die friedliche Saale in eine reißende Flut. In der Marktkirche hatte er über die Bekehrung des Paulus gepredigt. Dann konnten sie endlich weiter. Auch Justus Jonas hatte sich angeschlossen.
Am Tag darauf, bei Unterrißdorf, hatten sie ihn angefallen: Ein eiskalter Wind griff durch den Wagen hindurch an seinen Kopf, als wollte er ihm das Hirn zu Eis gefrieren lassen, Schwindel, Ohnmacht, Schwitzen, Herzbeklemmung, Atembeschwerden. Eine Herzattacke im Reisewagen. Ein persönlicher Angriff. Aber keine Attacke von den bösen Geistern, die der Teufel auf ihn hetzte. Nein. Es waren die Juden, die den kalten Wind ausgeblasen hatten, um ihn umzubringen. Diese bösesten Übeltäter der Christenheit, diese unbekehrbaren Glaubensfeinde, die Mörder Jesu Christi. Sie trachteten ihm nach dem Leben. Wie gut, dass er das noch in Eisleben bei den Grafen zur Sprache gebracht hatte.
Man muss sie austreiben aus den christlichen Gemeinden, diese Juden. Vernichten. Wie den Teufel und den Antichristen.
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