Als alle aus dem Saal strömten, drängelte er sich neben sie. Ohne es zu wollen, oder vielleicht doch in unbewusster Absicht, schubste er sie ein wenig von schräg hinten, als sie sich durch die Tür zwängten. Sie drehte sich um. Und er strahlte sie so unverhohlen an, seine Bewunderung leuchtete so hell aus seinen Augen, dass sie ihm ein Lächeln schenkte. Es verließ ihre Lippen und flog zu ihm herüber. Flog in ihn hinein, als habe ihn in diesem Augenblick ein göttlicher Funke berührt, ähnlich dem, der von Gottes Zeigefinger zu Adams Hand übersprang bei dessen Erschaffung, ganz in der Nähe, hoch oben an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Nur dass der Funke, der sich zwischen ihnen entzündete, ganz und gar menschlicher Natur entsprang. Jedenfalls verwickelten sie sich sofort in ein intensives Gespräch, das leicht wie ein Pendel hin und her schwang und beide wie von selbst dazu bewegte, nicht sofort voneinander zu lassen, sondern gemeinsam, dicht beieinander über die Wege und Gärten des Vatikans in die abendliche Dunkelheit zu spazieren. Hinein in die Abgeschiedenheit, Ruhe, Stille, die sie hier umfing, während rund um diesen besonderen Ort das Nachtleben der italienischen Millionenmetropole zu tosen begann.
Als sie am päpstlichen Gästehaus Sanctae Marthae vorbeikamen, brannte oben über der Tür noch Licht hinter den Fenstern und sie glaubten einen leicht gebeugten Mann zu erkennen, der sich schemenhaft hin und her bewegte.
„Das ist er“, sagten sie zueinander. Fast gleichzeitig. Nicht mehr.
Sie sollten noch häufig und viel über ihn sprechen. Von nun an sahen sie sich oft, bald täglich, bald mehrmals täglich. Als Fabio von seinem Rechercheauftrag zur Lutherzeit erzählte, witterte Maria sofort ein Thema, das journalistisch aufbereitet werden könnte und bat ihn, sie auf dem Laufenden zu halten. Nichts war ihm lieber, als ihr davon zu erzählen. Und von sich. Aber noch mehr mochte er es, ihr zuzuhören, wenn sie von sich erzählte, von ihrem bisherigen Leben und von dem neuen Geist, der jetzt eingezogen war in den Vatikan, in die Redaktion, einen Geist, den sie in ihrer journalistischen Arbeit hinaustragen wollte, urbi et orbi. Maria entpuppte sich in ihren langen Gesprächen als glühende Anhängerin des neuen Papstes. Sie sah in ihm einen wahren Reformator ihrer Kirche, einen der es ernst meint mit der christlichen Botschaft, mit Nächstenliebe, Demut, Bescheidenheit, Glauben. Und sie versuchte mit aller Kraft, auch Fabio für diesen mutigen Mann zu begeistern. Das war nicht so einfach. Denn Fabio hing noch an den überkommenen kirchlichen Gewissheiten, war anders aufgewachsen als sie, weniger individuell, eher spirituell, vielleicht auch weniger einsam als sie, eher aufgehoben in der Geborgenheit religiöser Gemeinschaften.
Und dann hatte Franziskus im Vatikan diese Weihnachtsansprache gehalten. Noch nie hatten Fabio und Maria einen Heiligen Vater so sprechen gehört.
„Ihr seid eine eigensüchtige, ja verbrecherische Bande, wenn Ihr Euch nicht ändert“, hatte er den versammelten Würdenträgern und Entscheidungsgehilfen seiner Kurie ins Gewissen gepredigt. Und sein heiliger Zorn ergoss sich über diese Apparatschiks, die sich durch nichts hatten beeinflussen lassen, seit er den Stuhl Petri übernommen hatte. „Offenbar leidet Ihr alle unter einer fürchterlichen Krankheit: Sie heißt spiritueller Alzheimer. Und sie ist die schlimmste aller Krankheiten, die uns befallen kann!“ Und dann hatte er völlig offen und ungeschützt all die Skandale der letzten Jahre angesprochen. Er wisse, dass es für ihn und seinen Kardinalstaatssekretär fast unmöglich sein werde, sich gegen die Machen- und Seilschaften in der Kurie durchzusetzen. Das sei ja schon unter seinem ehrwürdigen Vorgänger, Papst Benedikt XVI., nicht gelungen. Aber mit Gottes Hilfe werde er das Werk vollbringen, das ihm aufgegeben sei, ohne dass es noch eines „Vatileaks“ bedürfe, der all ihre Unziemlichkeiten und Vergehen an Journalisten ausplaudere, eines Maulwurfs wie des Kammerdieners seines Vorgängers, der freilich nichts als die Wahrheit gesagt habe.
Maria und Fabio hatten diese Ansprache selbst miterlebt, weil sie direkt in das Kommunikationssekretariat übertragen wurde. Hatten gesehen, wie ob dieser Strafpredigt den purpurroten Kurienmenschen die Schamesröte ins Gesicht stieg. Aber mindestens ebenso vielen die Röte der Wut. Es war eine Kampfansage. Und sie löste ein Erdbeben aus im Kirchenstaat. In den ehrwürdigen Redaktionsräumen des Radio Vatikan wurde sofort heftig diskutiert, ja hitzig gestritten.
„Weißt du“, sagte Maria irgendwann zu Fabio, „es war ziemlich naiv von uns zu denken, dass es hier tatsächlich um Glaubensfragen geht, um Religion, vielleicht sogar um Gott, Christus und den Heiligen Geist.“
„Was meinst du damit?“
„Dass der Heilige Vater einen gefährlichen Brei auskocht, verseucht mit hoch ansteckenden, lebensgefährlichen Krankheitserregern. Da geht es mächtigen Leuten an den Kragen. Meinst du, die werden sich vom Heiligen Vater einfach an den Pranger stellen lassen?“
„Das müssen sie doch wohl, schließlich ist er unfehlbar. Es ist ganz einfach: Sein Wort gilt, für alle.“
„Jetzt bist du aber wirklich naiv, Fabio.“ Maria hielt ihm einmal mehr die Machenschaften vor, die den Vatikan über die Jahre erschüttert hatten. Die undurchsichtigen Milliardengeschäfte der Vatikanbank vor allem, des Istituto per le Opere Religione, mit der Geheimloge P 2 und mit dem italienischem Adel, mit der Mafia und der Cosa Nostra, die allesamt ihr dunkles Geld steuerfrei und vor allem sicher in der Obhut des Heiligen Stuhls gebunkert hatten. Die unbezweifelbaren Beweise dafür wie den Schwarzgeldkoffer von 20 Millionen Euro in bar aus der Schweiz, mit dem ein Bankangestellter erwischt worden war. Den Umstand, dass der neue Chef der Vatikanbank für seine Vorschläge zur Veröffentlichung der Bilanz und zur Anwendung der Geldwäschebestimmungen der EU gnadenlos gefeuert wurde. Ein freundliches Schicksal. Denn einen seiner Bevollmächtigten fand man von einem Killerkommando erhängt an einer Londoner Brücke, während sich am gleichen Tag eine allzu gut informierte Mitarbeiterin aus einem römischen Hochhaus scheinbar freiwillig zu Tode stürzte.
„Da geht es nicht um die Auslegung einer Enzyklika oder um das rechte Verständnis eines theologischen Textes wie bei seinem Vorgänger, dem Professor aus Deutschland“, ereiferte sich Maria. „Der hat doch alle gewähren lassen. Da hatte doch niemand etwas zu befürchten. Da konnten doch alle tun und lassen, was sie wollten. Aber jetzt, Fabio, jetzt steht plötzlich die Existenz dieser mächtigen Leute, ihrer Hintermänner und ihrer Organisationen auf dem Spiel. Die können den Vatikan, all seine ehrwürdigen Einrichtungen und seine weltumspannenden Netzwerke nicht länger benutzen, als wäre er ihr Hinterhof, von niemand kontrolliert, nicht von italienischen Behörden, nicht von europäischen Instanzen, nicht von der Justiz oder irgendeiner Staatsgewalt. Gegenüber so einem Zufluchtsort wirkt die Schweiz doch wie ein Hochrisikoland, dagegen sind die Cayman Islands so sicher wie eine Wellblechhütte. Meinst du wirklich, diese Leute lassen sich so einen Schutzbunker mitten im guten alten Europa einfach wegnehmen?“
Fabio nickte. Er musste ihr Recht geben.
„Verstehst du jetzt, warum der Heilige Vater nicht nur einen religiösen Streit ausfechten muss, sondern auch einen ganz harten, richtig brutalen Machtkampf? Er muss diese alten Strukturen in heiligem Zorn zerschlagen so wie Christus die Heuchler und Geldwechsler aus Gottes Tempel vertrieben hat. Und dieser Kampf ist noch lange nicht entschieden.“
Oft diskutierten sie miteinander auf diese Weise bis lange in die Nacht hinein. Was sich da abspielte im Vatikan, gab dafür allen Anlass. Aber es war auch Vorwand, jedenfalls für Fabio. In Momenten ehrlicher Selbstvergewisserung gestand er sich ein, dass er Marias Nähe einfach deshalb suchte, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte. Auch körperlich. Wenn er neben ihr saß und sie ihren Kopf an ihn lehnte, wenn sie sich bei ihm einhakte oder er ihre Hand nahm, wenn sie sich beim Abschied umarmten und ihre Lippen sich nahe kamen, fast berührten, spürte er ein heftiges Verlangen, fühlte, dass sie es erwiderte. Aber sie zögerten, ihm letztlich nachzugeben. Sie waren gute Katholiken.
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