1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 „Kann ich irgendwie helfen?“
Hilflos versank Tishanea im Anblick ihrer Mutter. Wie sehr sie dieses Gesicht vermisst hatte! Diese blaugrünen Augen mit den Wimpern, die etwas heller waren als die drei seetanggrünen Zöpfe auf Rabess’ Rücken. Und wie sehr es schmerzte, die Spuren der verlorenen zwölf Jahre auf diesem Gesicht zu sehen! Die Haut ihrer Mutter war stärker von Sonne und Seeluft gegerbt. Aus ihren Zöpfen lugten weiße Fäden hervor. Die Umrisse ihres Gesichts und ihres Körpers waren noch genauso kräftig, aber schärfer als früher.
Rabess musterte Tishanea mit wachsendem Verdruss, bis plötzliche Unruhe in ihren Augen aufblitzte. Ihre Züge verhärteten sich. Beinahe drohend ging Rabess auf Tishanea zu. „Wer bist du?“
Tishaneas Kehle wurde eng. Zwölf Jahre mochten eine lange Zeit sein, und zweifellos hatte sie sich noch stärker verändert als ihre Mutter. Aber Rabess musste doch erkennen, wie ähnlich sie ihr sah – die gleiche Nase, der gleiche Mund, das gleiche Kinn. Hatte sie ihre Tochter nicht schon erkannt? Warum zögerte sie also?
„Ich bin es, Mutter – Tishanea...“
Die Härte wollte nicht von Rabess’ Gesicht verschwinden. Die Wasserhafte wich sogar einen Schritt zurück, und ihre Augen verschmälerten sich. Genau so hatte der dürre Seestädter vor dem Zunfthaus der Fischer ausgesehen. Ein Wellenbrecher der Verzweiflung riss Tishanea mit sich.
„Ich... ich sollte ins Haus des dreifachen Friedens gebracht werden,“ hörte sie sich plötzlich stammeln. „Aber ich konnte mich noch in Seestadt befreien. Um den Friedenslehrern endgültig zu entkommen, versteckte ich mich im Hafen auf einem Schiff – auf einem Flusshandelsschiff. Natürlich wurde ich bald entdeckt und im nächsten Hafen von Bord geworfen – wie jeder blinde Passagier. In Zweimündung musste ich einige Zeit als Bettlerin auf der Straße leben. Dann wurde ich von einer Familie aufgenommen, als Dienerin. Jetzt bin ich nach Dreistadt zurückgekehrt, um... um meine Familie wiederzufinden.“
Tishaneas Knie drohten nachzugeben. Sie wusste nicht, ob sie von ihrer Verzweiflung niedergedrückt wurde, oder von der Überraschung über ihre eigenen Worte. Aber was kümmerten sie ihre Knie, solange ihre Augen auf Rabess’ Gesicht nach einem Funken Wärme und Freude forschten! Der Funke blieb aus, aber zumindest rückte ihre Mutter wieder näher. Zuletzt schüttelte Rabess den Kopf.
„Das ist zu viel für mich allein,“ sagte sie tonlos. „Komm mit.“
Rabess schritt an ihrer Tochter vorbei, den Floßpfad hinunter. Tishanea musste ihren Körper dazu zwingen, ihrer Mutter zu folgen. Die Lüge brannte auf ihrer Zunge, als hätte sie eine Qualle verschluckt. Wie hatte sie nur Schuracs Lügengeschichte erzählen können! Welche wasserhafte Mutter würde eine Tochter haben wollen, die vor ihren Feinden floh statt sich ihnen zu stellen? War ein Leben als Bettlerin und Dienerin nicht sogar schlimmer als ein Leben im Haus des dreifachen Friedens? Wenn sie bei der Wahrheit geblieben wäre, hätte ihre Mutter bestimmt nicht so kalt reagiert – oder? Tishanea holte auf, um einen verstohlenen Blick auf Rabess’ Miene werfen zu können. Dort stand keine Härte mehr. Nur große Nachdenklichkeit und ein wenig Sorge. Und als Rabess Tishaneas Blick auffing, antwortete sie sogar mit dem Hauch eines Lächelns. Zaghafte Erleichterung und neue Unsicherheit spülten in dichten Wellen über Tishanea hinweg.
Rabess ging so schnell, dass sie die Floßviertel rasch hinter sich ließen und kurz darauf im Hafen eintrafen. Ohne das geringste Zögern steuerte Rabess einen bestimmten Pier an. Schließlich hielt sie vor einem Schiff, das gerade groß genug für den Fischfang auf hoher See war. Tishanea las den Namen, und ihr Herz machte einen Sprung. Es war tatsächlich die gute alte „Seelöwin“ – das Schiff ihrer Eltern. Oben auf der Rahe setzten zwei Männer und eine junge Frau soeben die letzten Handgriffe an einem neu aufgezogenen Segel.
„Goschub!“
Der ältere der beiden Männer hob flüchtig den Kopf. „Was gibt es, Rabess?“
„Komm herunter! Wir haben... etwas zu besprechen.“
Tishanea hörte, wie ihr Vater einige halblaute Anweisungen gab, bevor er den Mast herabkletterte. Sobald er das Deck erreichte, heftete er seinen Blick auf Tishanea und wandte ihn nicht mehr ab, bis er vor ihr auf dem Pier stand. Goschub trug immer noch einen Stoppelbart und viele, ungewöhnlich kurze Zöpfe, keiner von ihnen länger als eine Sardine. Allerdings begann die Zahl der weißen Haare die der schwarzen zu überwiegen. Um seine Augen herum hatten sich tiefe Falten eingegraben, als würde er sie oft zum Schutz vor dem Sonnenlicht zusammenkneifen. Doch aus den Augen leuchtete dasselbe klare Grün, das Tishanea sah, wenn sie in einen Spiegel blickte. Anders als Rabess betrachtete Goschub Tishanea nicht scharf oder kalt, sondern mit großer Nüchternheit. Er legte sogar seine Hand unter Tishaneas Kinn, um ihr Gesicht erst nach rechts und dann nach links zu wenden. Zuletzt hakte er beide Daumen in seinen Fellgürtel und fragte ruhig:
„Nun, Tochter? Besuchst du uns? Hat das Haus des dreifachen Friedens dich nach zwölf Jahren einmal aus seinen Klauen entlassen?“
Tishanea brachte keinen Ton hervor. Diese Ruhe war um nichts besser als die Verschlossenheit ihrer Mutter. Unter Rabess’ steinerner Miene verbargen sich vielleicht starke Gefühle. Goschubs Ruhe hingegen grenzte an Gleichgültigkeit.
„Sie sagt, dass sie nie im Haus des dreifachen Friedens war,“ antwortete Rabess an Tishaneas Stelle. „Dass sie noch in Seestadt entwischt ist. Danach gelangte sie als blinder Passagier nach Zweimündung, wo sie sich zuerst als Bettlerin und dann als Dienerin durchschlagen musste.“
Bei dem Wort „entwischt“ hob Goschub ungläubig die rechte Augenbraue. „Tatsächlich? Und erst nach zwölf Jahren kehrst du nach Seestadt zurück? Warum so spät?“
„Wie hätte ich denn früher kommen können?“ brachte Tishanea mühsam hervor. „Ich konnte doch nicht weg...“
„Weil du eine Dienerin warst?“ Immer noch schwebte die skeptische Braue hoch über Goschubs Auge.
Tishanea nickte so zögerlich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Es half nichts, das Schiff war vom Stapel gerollt. Ihr Vater verzieh keine Lügen. Sie musste bei dem bleiben, was sie Rabess gesagt hatte. „Ich hatte kein Geld für die Fahrt nach Seestadt. Die Familie, die mich aufnahm, bezahlte mich lange nicht. Erst nachdem ich sechzehn wurde, bekam ich Lohn – und nur sehr wenig...“
Goschub blieb unbeeindruckt. „Und was tut diese Familie?“
„Sie führt eine kleine Schule.“
Die linke Braue gesellte sich eine Stufe höher zur rechten. „Du hast also ein Leben als Zögling in einer Schule gegen ein Leben als unbezahlte Dienerin in einer anderen Schule eingetauscht? Das war es wert? Dafür bist du entwischt?“
Plötzlich schäumte unbändige Wut in Tishanea hoch. Hatte Goschub nie einen Gedanken daran verschwendet, wie grausam das Leben eines Zöglings im Haus des dreifachen Friedens sein musste – wie grausam das Leben seiner eigenen Tochter sein musste?
„Warum sollte es das nicht wert gewesen sein?“ fauchte Tishanea. „Alles ist besser als das Haus des dreifachen Friedens! Oder wäre es dir lieber gewesen, wenn ich zwölf Jahre lang auf dem Mittleren Grund eingesperrt gewesen wäre? Wenn mir die Friedenslehrer zwölf Jahre lang ihre Lektionen über das gemeinsame Leben der drei Haftigkeiten in Dreistadt eingehämmert hätten? Wenn ich von Felshaften und Erdhaften erdrückt worden wäre, bis ich nicht mehr gewusst hätte, was ,wasserhaft’ eigentlich bedeutet?“
Als Tishanea zu toben begann, glomm ein amüsiertes Funkeln in Goschubs Augen auf. Am Ende stand ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. „Ja, so kenne ich mein kleines Fischkätzchen – mit ungebrochenem Eigensinn, ganz wie ihr Vater.“
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