Irene Euler
Das Haus des dreifachen Friedens
Dreistadt Band 1
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Inhaltsverzeichnis
Titel Irene Euler Das Haus des dreifachen Friedens Dreistadt Band 1 Dieses ebook wurde erstellt bei
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
Leseprobe: Am Mittleren Grund (Dreistadt Band 2)
Impressum neobooks
Zwei Fische wölbten sich in die Höhe. Ihre Mäuler hoben eine riesige Muschel empor, wie eine Krone für den Herrscher der Meere. Von ihren stachelbewehrten Flossenkämmen perlte in dünnen Strahlen das Wasser ab, als ob sie soeben die Meeresoberfläche durchbrochen hätten und gleich wieder darunter verschwinden würden. Doch sie standen seit langer Zeit in genau dieser Haltung an genau diesem Ort. Sie waren aus Stein. Tishanea hätte den Umriss jeder einzelnen gemeißelten Schuppe aus dem Gedächtnis aufzeichnen können, so oft war sie hier gesessen und hatte sehnsüchtig auf diesen Torbogen geblickt. Früher hatte das Tor den Weg in eine freie Stadt geöffnet. Heute trennte es nur noch Seestadt vom Mittleren Grund. Eines war jedoch gleich geblieben: Wer das Tor durchschreiten wollte, musste ein Wasserhafter sein. Gedankenverloren spannte Tishanea die Schwimmhäute zwischen ihren Zehen und wippte mit den Füßen. Sie hatte dieses Tor noch nie durchschritten. Sie war hindurch geschleppt worden – als brüllende, blind um sich schlagende Siebenjährige. Seit jenem Tag vor zwölf Jahren hätte das Seestädter Tor genauso gut am anderen Ende des Ozeans liegen können. Seit jenem Tag war Tishanea eine Gefangene des Mittleren Grundes. Eine Gefangene des Hauses des dreifachen Friedens. Tishanea löste ihren Blick vom Tor und richtete ihn auf die Höhen von Felsstadt. Das Rote Massiv leuchtete satt in der Abendsonne. Bis zur Dämmerung blieb ihr also noch Zeit. Vorsichtig tauchte Tishanea ihre Hände und Füße in das kalte, klare Wasser des Kanals, der den Torbrunnen speiste. Nachdem es über die Fischleiber gesprudelt wäre, würde es durch ganz Seestadt fließen, hinunter zum Meer. Tishanea schloss ihre Augen, um das Strömen ganz in sich aufzunehmen. Wenn das Wasser doch zumindest einen Teil von ihr mit nach Seestadt nehmen könnte!
„Tisha!“
Unwillig hob Tishanea die Lider. Länger als notwendig verharrte sie reglos, bevor sie die Hände aus dem Wasser nahm und sich halb umwandte.
„Was?“
„Komm rauf! Flynna will uns sehen – so schnell wie möglich.“ In Rogosols Stimme mischte sich wie immer dienstfertige Aufopferung mit Missmut.
Angewidert spreizte Tishanea ihre Finger, während sie das Wasser von ihren Schwimmhäuten schüttelte. „Wieso? Wir haben doch heute frei.“
„Weiß ich nicht – jetzt mach schon!“ drängte Rogosol. „Ich hab es ohnehin so satt, dich immer aus den hintersten Winkeln des Mittleren Grundes hervorzerren zu müssen!“
Tishanea rümpfte die Nase. Typisch Rogosol, vom hintersten Winkel zu sprechen, ohne den Platz vor dem Seestädter Tor beim Namen zu nennen. Auf diese Weise konnte er notfalls abstreiten, dass er eine abfällige Bemerkung über Seestadt gemacht hatte. Tishanea nahm Maß und sprang auf die Krone der Kanalmauer. Sie landete so dicht neben Rogosol, dass er eine Ladung Wassertropfen abbekam.
„Wenn du es so satt hast, mich zu holen, schick doch das nächste Mal Paukir.“
Ein verdrießlicher Blick blieb Rogosols einzige Antwort. Paukir verstand es vorzüglich, von einem Moment zum anderen in fieberhafte Tätigkeit zu verfallen. Bestimmt hatte er beim Klang von Flynnas Schritten damit begonnen, irgendetwas zu schreiben oder zu ordnen. So war es – wie üblich – dem weniger emsigen Rogosol zugefallen, die – wie üblich – abwesende Dritte der achten Trias zu suchen.
Schweigend stapfte Tishanea hinter Rogosol her. Auf den Stiegen zur Eingangshalle ballte sie unwillkürlich die Fäuste. Wie sie das Haus des dreifachen Friedens hasste! Diese Säulen mit ihren Kapitellen, die abwechselnd in die Form einer Welle, eines Bergmassivs und einer Erdscholle mit Kornähren gemeißelt waren! Diesen Innenhof mit dem lächerlichen Schwimmbecken, das ein ganzes Meer ersetzen sollte! Diesen lauten Wirtschaftstrakt, diesen lähmenden Lehrtrakt und diesen beengten Wohntrakt! Diese ganzen sauberen Gebäude, denen man auf den ersten Blick ansah, wie neu sie waren. Zu neu. Sie schrien heraus, dass sie auf dem Mittleren Grund standen – im Zentrum jener unsäglichen Stadt, die nach den fünfjährigen Fehden durch die Vereinigung von Seestadt, Erdstadt und Felsstadt entstanden war. Dreistadt.
Im Wohnraum der achten Trias thronte Paukir auf einem Sitzkissen. Um eine Aura der höchsten Konzentration bemüht, malte er mit seinem Kohlestift irgendwelche Notizen auf ein Blatt Papier. Tishanea ignorierte ihn und schwang sich auf ein Fensterbrett. Von den Sitzkissen aus sah man durch die hoch angesetzten Fenster bestenfalls ein Stück Himmel. Die Fensterbretter erlaubten zumindest ein wenig Ausblick über den Mittleren Grund, in Richtung Seestadt. Unten im Wohnraum ließ Rogosol sich schwungvoll auf ein Kissen plumpsen. Es schlitterte ein Stück über den Boden und versetzte Paukirs Sitz einen Stoß. Ein trockenes Knacken verriet, dass dieser Ruck für den Kohlestift zu viel gewesen war.
„Nun sieh dir an, wer wieder einmal die Eleganz eines Erdochsen entwickelt!“ Selbst wenn er entrüstet war, blieb Paukir bei seiner übertrieben klaren Sprechweise. „Ich weiß nicht, welche Vorstellung ich trauriger finde: Dass du wirklich mit der Eleganz eines Erdochsen durchs Leben gehen musst, oder dass du mich auf diese dümmliche Art ärgern wolltest.“
Rogosol beäugte Paukir finster und schob die Unterlippe vor. Tishanea rollte mit den Augen. Wenn Rogosol nur einmal seine Opferrolle aufgeben würde! Er entschuldigte sich nie für seine Missgeschicke, er verteidigte sich nie gegen Paukirs Beleidigungen und er wehrte sich nie, wenn Tishanea ihn anspritzte oder ihm auf die Zehen stieg. Stattdessen schmollte er. Regelmäßig und beharrlich. Paukir legte sein Schreibbrett beiseite, um den nutzlosen Teil seines Kohlestifts wegzuwerfen und den längeren Teil zu spitzen. Doch als vom Gang her Schritte erklangen, blieb er sitzen und legte den zerbrochenen Stift mit betonter Sorgfalt auf das Brett neben sich. Gleich darauf schwang die aus Schilfhalmen geflochtene Tür auf.
***
Flynna schloss die Tür hinter sich und ließ ihren Blick über die Geschwister der achten Trias schweifen. Rogosol, mit seinem rundlichen, von kastanienbraunen Locken umrahmten Gesicht über der stämmigen Figur der Erdhaften. Paukir, dessen rötliche Haut den eckigen Knochenbau der Felshaften umspannte. Sein anthrazitgraues, streng zurückgebundenes Haar betonte die kantigen Gesichtszüge noch mehr. Und Tishanea, die schlanke, langgliedrige Wasserhafte. Ihr grünlicher Hautton ließ sie neben ihren Triasbrüdern stets ein wenig kränklich aussehen – wenn ihr ovales Gesicht nicht gerade von ihren zahllosen seetanggrünen Zöpfen verhängt war. Flynna seufzte lautlos. Seit zwölf Jahren bemühte sie sich als Friedensmutter um die drei, aber Friede hatte kaum zwischen ihnen geherrscht. Trotz ihrer tiefen Überzeugung vom Sinn des Hauses des dreifachen Friedens war sie manchmal der Verzweiflung nahe gewesen. Aber es hatte auch viele gute Tage gegeben, und immer war die Zeit auf ihrer Seite gewesen. Bis jetzt. Nun musste ihre Trias völlig unerwartet eine gefährliche Aufgabe auf sich nehmen. Bevor ihre Ausbildung zu Ende war. Bevor die Friedenslehrer Zeit gehabt hatten, ausführlich darüber zu beraten, welche Trias am besten für welchen Dienst geeignet wäre. Bevor das letztes Schuljahr begann, in dem jede der neun Dreigeschwistergruppen speziell auf ihre zukünftigen Dienste vorbereitet werden sollte. Flynna konnte sich nicht helfen – die Entscheidung kam ihr überhastet vor. Wenn sie und die anderen Friedenslehrer mehr Zeit gehabt hätten, wäre die Wahl vielleicht auf eine andere Trias gefallen. Aber heute hatte die Mehrheit für die achte Trias gestimmt. Und so blieb Flynna nichts anderes übrig, als ihren Zöglingen die Nachricht zu überbringen. Hoffentlich behielten Schurac und die anderen Friedenslehrer recht. Hoffentlich würden die größten Schwächen ihrer Zöglinge während ihrer Bewährungsprobe tatsächlich zu ihren größten Stärken werden. Jetzt galt es, die drei nichts von ihren Zweifeln merken zu lassen. Die Fassungslosigkeit würde auch so groß genug sein.
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