Flynna wappnete sich für den Steinschlag an Fragen, der im nächsten Moment aus Paukirs Mund stürzen würde. Stattdessen kamen die ersten Worte vom Fenster her:
„Wir gehen in die drei Städte!?“
Tishanea saß nicht mehr gegen den Fensterrahmen gelehnt. In höchster Anspannung stemmte sie ihre Fußsohlen unter dem Fensterbrett gegen die Wand, als würde sie wie eine Harpune in den Raum schießen wollen. Flynna schluckte trocken. Dieser Ausbruch übertraf ihre Befürchtungen.
„Natürlich gehen wir in die drei Städte,“ fauchte Paukir. „Du hast es doch gerade gehört!“
Der scharfe Ton des Felshaften verriet, dass er sich noch nicht von seiner Überraschung erholt hatte. Für gewöhnlich gab Paukir den Überlegenen. Tishanea warf ihm einen vernichtenden Blick zu, nach wie vor in größter Anspannung. Nur Rogosol blieb scheinbar ungerührt. Doch seine Arme waren zu fest verschränkt und über seinen Brauen saß ein sanftes Stirnrunzeln.
Erneut unterdrückte Flynna ein Seufzen. „Ja, ihr geht in die drei Städte. Möglichst bald – nach einigen letzten, speziellen Lektionen. Ausnahmsweise werdet ihr einzeln und von Friedenslehrern eurer eigenen Haftigkeit unterrichtet werden – Rogosol von Sandob, Paukir von Kittanu, Tishanea von Schurac.“
Die Schultern der Wasserhaften kippten nach vorne, und die dünnen Zöpfe fielen wie ein Vorhang vor ihr Gesicht. Diesmal konnte Flynna ihr Seufzen nicht länger zurückhalten. Die meisten Zöglinge standen den Lehrern ihrer eigenen Haftigkeit besonders nahe. Diese Lehrer waren das Bindeglied der Zöglinge zu den Traditionen und zu der Lebensweise ihrer Geburtsstadt. Nicht für Tishanea. Von Anfang an hatte sie die wasserhaften Friedenslehrer noch heftiger abgelehnt als ihre felshaften und erdhaften Erzieher. Und gegen Schurac hegte sie regelrechten Hass. Im Gegenzug hielt Schurac Tishanea für den schwierigsten Zögling des Hauses des dreifachen Friedens. Es war Flynna ein Rätsel, warum er trotzdem zugestimmt hatte, Tishanea zu unterrichten – und warum er als Erster vorgeschlagen hatte, die achte Trias mit der Aufklärung des Anschlags zu betrauen. Flynna rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab.
„Sandob, Kittanu und Schurac wollen euch noch vor dem Abendessen sehen. Geht also jetzt zu ihnen.“
***
Bleiern stapfte Tishanea auf die Wohnung der fünften Trias zu. Während all ihrer Jahre im Haus des dreifachen Friedens war sie nur für eines dankbar gewesen: Dass sie nicht der fünften Trias angehörte. Schurac als Friedenslehrer erdulden zu müssen war schlimm genug. Ihn auch noch zum Friedensvater zu haben, wäre der Wellenkamm aller Grausamkeit gewesen. In einem Schlafzimmer direkt neben seinem hätte sie nie ein Auge zugetan. Und niemand brauchte ihr mit „Aber die Zimmer der Friedenslehrer liegen doch nicht in der Wohnung ihrer Trias“ zu kommen. Solange eine Verbindungstür da war, spielte es keine Rolle, ob die Zimmer der Lehrer neben oder in der Wohnung ihrer Trias lagen. Tishanea ballte die Fäuste. Nichts hätte ihren stummen Jubel über Flynnas Nachricht gründlicher dämpfen können als die Nennung von Schuracs Namen. Dennoch – für ihre Rückkehr nach Seestadt würde sie noch viel mehr auf sich nehmen als Einzelunterricht bei Schurac! Nur mehr fünf Schritte. Nur mehr drei. Tishanea hob ihre Hand, um an den Türstock zu klopfen, und blieb reglos stehen. Sie war nur selten vor dieser Schilftür hier gestanden, aber der Anblick weckte keine einzige gute Erinnerung.
„Nun komm schon rein,“ grollte eine tiefe Stimme von drinnen. „Langes Zögern ist nie gut – schon gar nicht, wenn man keine Wahl hat.“
Tishanea ließ ihre Hand sinken und krampfte ihre Finger um den Türgriff. Mit allergrößter Überwindung schaffte sie es über die Schwelle. Schurac schwang sich aus seiner Hängematte und blieb mitten im Raum stehen. Das Zimmer schien um seine imposante Gestalt herum zu schrumpfen. Kein anderer Wasserhafter war so groß und so muskelbepackt wie er. Die drahtigen Felshaften sahen neben ihm geradezu zerbrechlich aus, aber er überragte auch jeden Erdhaften. Sein mächtiger Brustkorb, die breiten Schultern und kräftigen Oberarme hätten tatsächlich besser zum Körperbau eines Erdhaften gepasst. Darunter wirkten die langen, überaus schlanken Beinen des Wasserhaften beinahe lächerlich. Wenn er wenigstens sein schwarzes Haar auf irgendeine Art geflochten hätte wie alle anderen Wasserhaften! Aber er band es straff im Nacken zurück wie ein Felshafter. So traten die ebenmäßigen, aber grob geschnittenen Züge seines ovalen Gesichts noch markanter hervor. Auf den ersten Blick wirkte Schurac wie ein Fels in der Brandung. Als jüngster unter den Friedenslehrern stand er noch am Beginn des mittleren Alters. Es würde noch Jahrzehnte dauern, bis seine respektgebietende Erscheinung von schwindender Kraft gemildert würde. Erst der zweite Blick auf Schurac ließ eine unbändige Energie erkennen, die durch den strengsten Willen gerade noch im Zaum gehalten wurde. In Schuracs wasserblauen Augen lebte ein unstetes Flackern, und manche seiner Bewegungen gerieten eckig, fast unbeherrscht. Für gewöhnlich fühlte Tishanea sich in Schuracs Gegenwart wie eine Sardine neben einem Schwertwal. Nur an besonders guten Tagen fühlte sie sich wie eine Seeschlange. Heute war kein besonders guter Tag, aber zumindest ein besserer als die meisten.
Schurac sah in herrischem Schweigen auf Tishanea herab. Das Flackern in seinen Augen zeigte sich gedämpft, aber beharrlich. In der Gewissheit, dass sie ihm und dem Haus des dreifachen Friedens bald entkommen würde, hielt Tishanea Schuracs Blick länger stand als sonst. Doch am Ende ließ sie den Vorhang aus Zöpfen fallen.
„Eigentlich dachte ich, dass eine schwere Last auf deinen Schultern liegen muss, wenn ich deine Schritte schon von Weitem hören kann. Sonst huschst du beinahe lautlos an meiner Tür vorbei. Aber in deinen Augen sehe ich nichts von einer Last. Dort sehe ich nur deinen Eigensinn.“
„Vielleicht war das die Last – dass ich nicht vorbeihuschen durfte, sondern eintreten musste.“ Tishanea funkelte Schurac von unten her an. Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie ihn verabscheute – weder mit ihren Worten noch mit ihrem Verhalten. Also gab es auch jetzt keinen Grund dafür, ihren Unwillen gegen die bevorstehenden Lektionen zu verbergen.
Schurac schien nichts anderes erwartet zu haben. Er blieb ungerührt – so ungerührt, wie sein energisches Wesen es zuließ. „Schade. Das beweist, dass du die Aufgabe, die vor dir liegt, nicht mit dem notwendigen Respekt angehst. Denn bei dieser Aufgabe handelt es sich in der Tat um eine schwere Last.“
Hohn brandete in Tishanea auf: „Wie kann es für eine Wasserhafte eine Last sein, nach Seestadt zu gehen? Seestadt ist meine Heimat! Eine Last kann es nur für jemand wie dich sein – für einen A–“
Eine mörderische Stichflamme aus Schuracs Augen ließ Tishanea jäh innehalten. Beinahe hätte sie zur Abwehr den Ellbogen vor ihr Gesicht gehoben. Vor vielen Jahren war dieselbe Stichflamme der Vorbote eines Hiebes gewesen, der sie auf den Steinboden niedergestreckt hatte – der einzige Schlag, der jemals im Haus des dreifachen Friedens ausgeteilt worden war. Sie sollte wahrlich klüger sein als Schurac nochmals einen Abtrünnigen zu nennen.
„Du weißt nichts über Lasten,“ donnerte Schurac. „Aber das überrascht mich auch nicht, nach deinem behüteten Leben im Haus des dreifachen Friedens! Vielleicht wirst du in der kommenden Zeit etwas über Lasten lernen – das heißt: wenn du in der kommenden Zeit nichts darüber lernst, wirst du es wohl nie lernen. Weißt du überhaupt, was deine Aufgabe ist?“
Hielt er sie nach zwölf Jahren immer noch für einen Dummkopf? „Ich soll in Seestadt herausfinden, ob Wasserhafte hinter dem Sprengstoffanschlag auf das Delegiertenviertel stecken – und wenn ja, die Täter aufspüren.“
Читать дальше