„Das wirst du später anziehen. Jetzt komm.“
Schurac streifte Tishanea kaum mit einem Blick bevor er auf die Straße hinausschritt. Hastig griff die Wasserhafte nach ihrem Bündel und folgte ihm. Statt sich nach links zu wenden, in die Richtung des Seestädter Tors, steuerte Schurac eine Seitengasse an. Dort hielt ein von Erdochsen gezogener, mit einem Stoffzelt überdachter Karren. Auf Karren wie diesen transportierten die Erdstädter Getreide und andere Feldfrüchte. Schurac nickte dem erdhaften Karrenführer zu und zog die Zeltplane beiseite.
„Steig ein.“
Tishanea schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich dachte, ich gehe nach Seestadt.“
„Du gehst nach Seestadt,“ knurrte Schurac. „Aber du kannst nicht einfach durch das Seestädter Tor spazieren.“
Bitterkeit brandete in Tishanea auf. „Warum nicht? Wenn ich von einem Friedenslehrer begleitet werde, werden die Seewächter mich wohl durchlassen müssen – auch wenn ich ein Zögling bin!“
Schurac schnaubte. „Die Seewächter kennen euch Zöglinge nicht. Wir haben euch nur erzählt, dass sie euch erkennen und ins Haus des dreifachen Friedens zurückschicken würden, damit ihr nicht versucht, abzuhauen – und es hat gewirkt. Du kannst heute nicht einfach nach Seestadt hineinspazieren, weil du ein völlig neues Gesicht bist. Die Seewächter und die engstirnigen Wasserhaften beobachten, wer häufig zwischen Seestadt und dem Mittleren Grund hin und her wechselt. Wenn Seestädter hinter diesem Sprengstoffanschlag stecken, dann werden diese Seestädter erst recht darauf achten, wer vom Mittleren Grund nach Seestadt kommt. Schließlich könnte es sich um Ermittler handeln. Neue Gesichter würden ihnen sofort verdächtig vorkommen.“
„Und ein erdhafter Kärrner mitsamt seinen Erdochsen wird ihnen natürlich nicht verdächtig vorkommen,“ gab Tishanea sarkastisch zurück. „Weil er das Seestädter Tor nämlich gar nicht passieren darf. Oder ist plötzlich die Haftigkeitsbeschränkung für die drei Städte aufgehoben worden?“
Ein strenger Blick schoss auf Tishanea herab. „Der Kärrner wird uns durch Erdstadt hindurch aus der Stadt bringen – unter der Plane versteckt. Draußen am Fluss steigen wir auf ein Schiff um. Am Seestädter Hafen kommen täglich so viele fremde Wasserhafte an, dass ein neues Gesicht nicht auffällt. Und jetzt steig endlich ein!“
Brodelnd vor Zorn und Enttäuschung kletterte Tishanea auf den Wagen, um sich in die hinterste Ecke zu kauern. Statt durch das Seestädter Tor zu schreiten, musste sie sich einschleusen lassen – über Erdstadt! Dabei wäre ihr das Seestädter Tor immer offen gestanden – nur eine Lüge hatte sie davon abgehalten, in ihre Heimatstadt zu fliehen! Schurac duckte sich ebenfalls unter den Zeltfirst. Einen Augenblick lang amüsierte Tishanea sich darüber, wie lächerlich seine riesige Gestalt auf dem Karren wirkte. Dann war sie nur noch damit beschäftigt, mehr als eine Fischlänge Abstand zu Schurac zu halten. Nachdem der Wasserhafte dreimal hart auf die Planken der Ladefläche geklopft hatte, ging ein Ruck durch das Gefährt. Die Erdochsen setzten sich in Bewegung – in dem gemächlichen Tempo, das ihnen eigen war. Mit nichts als einer Zeltplane oder Schurac vor Augen dehnte sich die Fahrt schier ins Endlose. Die heimliche Reise durch Erdstadt zwang Schurac zwar zum Schweigen, aber er durchbohrte Tishanea immer wieder mit prüfenden Blicken. Auf diesem engen Raum war es unmöglich, den riesigen Wasserhaften zu ignorieren. Ständig lag ein Schatten der würgenden Angst über Tishanea. Die Anspannung, die stickige Luft und das Rütteln des Karrens riefen bald Übelkeit hervor. Beinahe wäre Tishanea erleichtert aufgesprungen, als der Wagen plötzlich hielt. Doch der Wortwechsel, der durch die Plane drang, erinnerte Tishanea rechtzeitig daran, dass sie das Äußere Erdstädter Tor noch nicht passiert hatten. Am Inneren Tor, zwischen dem Mittleren Grund und Erdstadt, hatten die Erdwächter den Karren anstandslos durchgelassen. Hoffentlich würden sie auch diesmal nicht auf die Idee kommen, einen Blick unter die Plane zu werfen. Wasserhafte waren in Erdstadt ebenso verboten wie Felshafte oder Erdhafte in Seestadt. Wieder setzte der Wagen sich in Bewegung, und diesmal wurde die Fahrt noch unruhiger. Die gepflasterten Straßen der Stadt lagen hinter ihnen. Tishanea hielt sich krampfhaft fest, um nicht gegen Schurac geschleudert zu werden. Irgendwann wurde das Geratter des Karrens von einem anderen, gleichmäßigeren Geräusch untermalt: Das Rauschen eines Flusses. Kurz darauf hielt der Wagen erneut. Schurac hob die Zeltplane, um hinauszuspähen.
„Wir sind da.“ Er schlug die Plane zurück und war auch schon verschwunden.
Tishanea sammelte ihre Habseligkeiten zusammen. Alles andere als elegant manövrierte sie ihre steifen Gliedmaßen von der Ladefläche. Draußen kniff sie die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen und versuchte, ihre Übelkeit abzuschütteln. Schurac gab sich völlig ungerührt, obwohl die Fahrt auf dem engen Karren für ihn noch unbequemer gewesen sein musste. Er entließ den Kärrner mit einem knappen Nicken und winkte Tishanea, ihm zu folgen. Zielstrebig lenkte er seine Schritte auf das Flussufer zu, wo eine Lücke im Schilfgürtel den Blick auf einen Steg freigab – eine Anlegestelle für jene Handelsschiffe, die Güter zwischen Seestadt und den wasserhaften Städten am oberen Flusslauf beförderten. Kein Schiff war in Sicht. Schweigend ließ Schurac sich auf dem Steg nieder. Tishanea setzte ihr mageres Gepäck ab und steuerte eilig das Buschwerk am Ufer an. Schurac musterte sie misstrauisch, sagte aber nichts. Erst als Tishanea sich bereits in die Büsche schlagen wollte, holte seine Stimme sie doch noch ein:
„Zieh dich auch gleich um!“
Tishanea hörte ein flatterndes Geräusch und wandte sich um – zu spät. Ein Haufen glänzendes Fischleder landete zu ihren Füßen. Zähneknirschend hob sie die Tunika auf. Nach zwölf Jahren bekam sie endlich wieder ein wasserhaftes Gewand. Und Schurac hatte nichts Besseres zu tun, als es in den Dreck zu werfen! Ihr Ärger verflog, sobald sie im Schutz des Buschwerks die Tunika über ihren Kopf zog. Die Leinenkleidung der Zöglinge war ihr nie unangenehm gewesen – nicht einmal die winterlich langen Hosen und die schwarzen Wollumhänge. Aber dies hier war etwas völlig anderes. Trotz der Sommerhitze lag das Fischleder kühl auf ihrem Körper. Nie würde es an der Haut kleben wie verschwitztes Leinen. Schweiß perlte von diesem Material genauso ab wie Regen oder Meerwasser. Gleich dem Schuppenkleid eines prächtigen Fisches spiegelte das glänzende, hellgraue Leder die Farben der Umgebung wider. Der schmale Pelzgürtel weckte Erinnerungen an den Seeotter, den sie in ihrer Kindheit als Haustier gehalten hatte. Übelkeit und Anspannung schwanden mit einem Schlag. Plötzlich erschien alles einfach und richtig. Heute würde sie endlich nach Hause kommen. Zu Seeottern, zu Fischleder, zum Fluss und zum Meer – zu ihrer Haftigkeit! Mit stolz erhobenem Kopf und gestrafften Schultern kehrte Tishanea zu der Anlegestelle zurück.
Schuracs Augen verengten sich jäh. „Das waren deine letzten Schritte im Paradegang,“ knirschte er zwischen den Zähnen hervor. „Für die Erfüllung deiner Aufgabe ist nichts so wichtig wie Unauffälligkeit.“
Dieses eine Mal gelang es Schurac nicht, Tishaneas Stimmung zu trüben: „Du musst es ja wissen – du bist schließlich ein Experte für Unauffälligkeit.“
Tishanea ließ sich am Rand des Steges nieder und begriff einen Lidschlag später, welch großen Fehler sie damit gemacht hatte. Sie fühlte das Beben der Holzplanken, als Schurac sich erhob, um an ihre Seite zu treten. Noch bevor sein Schatten über sie fiel, packte die lähmende Angst Tishanea im Nacken. Es war schlimm genug, dicht neben Schurac zu stehen. Vor ihm auf dem Boden zu sitzen, brachte sie fast um den Verstand. Der Fuß, der vor ihren panischen Augen waberte, schien beinahe so lang zu sein wie ihr Oberschenkel.
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