1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Völlig verwirrt starrte Tishanea Goschub an. Diesen Umbruch von kalter Gleichgültigkeit zu Wohlwollen konnte sie nicht so schnell fassen. War etwa alles nur ein Scherz gewesen, oder ein Test?
„Wer ist das, Vater?“
Inzwischen war auch der jüngere Mann – kaum mehr als ein Halbwüchsiger – von der Rahe herabgeklettert und blickte neugierig über die Schiffsreling.
„Deine Schwester Tishanea,“ gab Goschub unverblümt zurück.
„Wirklich?“ Nun kannte ihr Bruder kein Halten mehr. Schirron raste die Laufplanke hinunter und bremste sich gerade noch rechtzeitig ein, bevor er mit Tishanea zusammenstieß. „Tut mir Leid, dass ich dich nicht erkannt habe – aber ich kann mich nicht wirklich an dich erinnern.“
„Du warst ja auch erst vier Jahre alt, als ich... von zu Hause weggeholt wurde.“
Erstaunt stellte Tishanea fest, dass sie ihren Bruder anlächelte. Schirrons Grinsen war einfach zu ansteckend. Auf seiner Miene stand nichts anderes als lebendiges, freundliches Interesse. Dieser Ausdruck erinnerte Tishanea an ihre Mutter in früheren Jahren, obwohl Schirron Goschub stärker ähnelte als Rabess.
„Riesche, komm her!“ Schirron winkte der Frau, die soeben den Mast hinunterkletterte. „Es ist Tishanea!“
Riesche gab sich ebenso unbeteiligt wie Schirron aufgeregt war. Sie blieb auf Deck und ließ ihren Blick von oben auf Tishanea ruhen. „Ja, ich entdecke einige Ähnlichkeiten mit der lästigen kleinen Schwester, die plötzlich fort war.“
„Tishanea ist nur ein Jahr jünger als du,“ protestierte Schirron. „So klein und so lästig kann sie also nicht gewesen sein!“
„Stimmt.“ Riesche stützte die Ellbogen auf die Reling und das Kinn in eine Hand. „Du warst viel kleiner und viel lästiger.“
Der lästige kleine Bruder grinste. „Dann pass besser auf, dass Tishanea und ich uns nicht gegen dich verbünden.“
„Ach, bleibt sie bei uns?“ Kaum weniger gleichgültig als zuvor wandte Riesche sich ihren Eltern zu.
Rabess wechselte einen Blick mit Goschub. Tishanea hielt den Atem an und grub ihre Fingernägel in die Handflächen.
„Nun, sie ist jetzt in Seestadt,“ meinte Rabess. „Und wenn sie in Seestadt ist, wohnt sie natürlich auch bei uns.“
Nach wie vor fehlte die ersehnte Wärme in Rabess’ Stimme. Aber zumindest klang sie entschlossen. Tishanea wagte es, aufzuatmen. Sie konnte nach Hause gehen. Alles andere würde sich finden.
***
Im ersten Tageslicht gab Tishanea auf. Mehr als ein kurzer, unruhiger Dämmerschlaf war ihr in dieser Nacht nicht vergönnt gewesen. Obwohl sie in einer Hängematte im Dachzimmer ihres Elternhauses lag – oder vielmehr, weil sie in einer Hängematte im Dachzimmer ihres Elternhauses lag. Das ständige Knarren des Holzhauses war ihr fremd und sie spürte selbst die leiseste Bewegung des Wassers der Seestädter Bucht unter dem Floß. Aber daran würde sie sich bald gewöhnen. Schließlich war sie eine Wasserhafte. Und sie würde sich solange als Mitglied ihrer Familie bewähren, bis es egal wäre, wo sie die vergangenen zwölf Jahre verbracht hatte. Dann würde sie das Haus des dreifachen Friedens endlich vergessen können. Langsam traten die Umrisse der Möbel aus dem Dämmerlicht hervor. Tishanea betrachtete sie halb wehmütig, halb dankbar. Anders als die übrigen Räume ihres Elternhauses schien dieses kleine Zimmer unverändert zu sein. Neben dem Fenster wurde ein aus Schilfhalmen geflochtener Sessel mit einem Polster aus Seelöwenfell sichtbar. Eine kleine Kommode mit einem Muster aus eingeschnitzten Fischschuppen stand in der Ecke. Darüber hing ein Bord, auf dem sich einige alte, viel gelesene Bücher aufreihten. Alles sah so aus, als würde Großmutter gleich zur Tür hereinkommen. Doch seit dem vergangenen Abend wusste Tishanea, dass ihre Großmutter vor drei Jahren gestorben war. Nur dieser bittere Verlust erlaubte es ihr, allein in einem vertrauten Zimmer zu liegen. Als Kind hatte Tishanea sich einen größeren Raum mit Riesche geteilt. Für zwei Erwachsene und nach zwölfjähriger Entfremdung wäre dies nicht mehr gut gegangen. Riesche hätte sich mit Recht dagegen gewehrt, ihrer plötzlich wieder aufgetauchten Schwester Platz zu machen. Und auch Tishanea fühlte sich bereits bei dem Gedanken beengt, in einem Raum mit Riesche schlafen zu müssen. So eng die Zöglinge im Haus des dreifachen Friedens auch zusammenlebten – seinen eigenen Schlafraum hatte jeder von ihnen gehabt.
Als Tishanea Knarren vernahm, das nicht allein vom Haus verursacht wurde, stand sie auf, um in die Wohnküche hinunterzugehen. Goschub kniete vor der gemauerten Feuerstelle und schürte die neu entzündeten Flammen. Beim Klang von Tishaneas Schritten blickte er kurz über seine Schulter.
„Noch immer eine Frühaufsteherin? Gut.“ Er spießte einige Seegurken auf und platzierte sie über dem Feuer. Dann erst wandte er sich Tishanea zu. „Du kommst heute mit auf Fischzug?“
Tishanea nickte erleichtert. Goschub hatte ihr genau die Antwort in den Mund gelegt, die sie geben wollte. Eine schwammigere Frage hätte sie gewiss in irgendwelche Verlegenheit gestürzt.
„Ich weiß nur nicht, ob ich bei Seegang noch aufrecht auf Deck stehen kann. Ich fürchte, ich werde keine große Hilfe sein.“
Goschub winkte ab. „Den Seegang hast du bald wieder in den Beinen. Genauso wie du die Fischerei bald wieder im Kopf und in den Armen haben wirst. Schließlich bist du meine Tochter – eine wahre Wasserhafte.“ Er legte die wenigen Schritte zurück, die ihn von Tishanea trennten, und schlug ihr auf die Schulter.
Aus nächster Nähe schien Goschub plötzlich viel zu klein zu sein. Und er war sehr schlank, fast mager. Wieder schoss schlagartig das Bild des dürren Seestädters am Zunfthaus durch Tishaneas Kopf. „Seestadt wird nicht einmal die wasserhaften Zöglinge dulden,“ hallte es in ihren Ohren. „Sie sind nämlich keine Wasserhaften mehr. Sie kennen gar keine Haftigkeit, sie sind blinde, lose Strudelwürmer!“ Tishanea fühlte, wie sie blass wurde.
„Alles in Ordnung?“
Es kostete Tishanea ihre ganze Überwindung, Goschub in die Augen zu schauen. Als es ihr gelang, war sie überrascht. Er musterte sie zwar forschend, aber ohne Strenge. Sein Blick flackerte nicht und durchbohrte sie nicht von oben herab, um sie seinem Willen zu unterwerfen. Tishanea musste ihren Kopf nicht in den Nacken legen, um ihrem Vater ins Gesicht sehen zu können. Sofort verstand sie, wo ihr Problem lag – Schurac. Zwölf Jahre lang hatte sie keinen anderen wasserhaften Mann vor Augen gehabt als diesen Riesen. Die beiden anderen wasserhaften Friedenslehrer waren Frauen, und in ihren wasserhaften Mitzöglingen sah Tishanea immer noch Kinder. Alle übrigen Wasserhaften auf dem Mittleren Grund hatte sie keines Blickes gewürdigt. Sie war nie sicher gewesen, ob diese Wasserhaften auf dem Mittleren Grund lebten oder ob sie aus Seestadt kamen. Und weil sie keinen Wasserhaften begegnen wollte, die lieber auf dem Mittleren Grund lebten als in Seestadt, hatte sie alle gemieden. Auf diese Weise musste sie jedes Augenmaß für wasserhafte Männer verloren haben. Ihr Vater war nicht klein, sondern normal groß, und er war nicht mager, sondern sehnig. Er sah diesem Seestädter gestern am Zunfthaus nicht im Geringsten ähnlich. Und dieser Seestädter wusste nicht das Geringste über sie. Sie war kein blinder, loser Strudelwurm. Sie war eine Wasserhafte.
„Ja, alles in Ordnung.“ Tishanea rang sich ein Lächeln ab. „Ich habe nur Hunger.“
„Dieses Problem lässt sich rasch beheben.“ Goschub nahm einen Stapel Teller aus dem Küchenregal und drückte ihn Tishanea in die Hände. „Das Frühstück wird gleich fertig sein. Deck schon einmal den Tisch.“
***
Wie befürchtet fühlte Tishanea sich unsicher auf den Beinen, sobald die „Seelöwin“ das offene Meer erreichte. Nachdem sie Riesches ironischem Lächeln begegnet war, wich Tishanea Goschubs und Rabess’ Blicken aus. Sie wollte weder Belustigung noch Mitgefühl auf den Gesichtern ihrer Eltern sehen – und Zweifel schon gar nicht. Nur ihrem Bruder konnte sie nicht entgehen. Schirron tippte ihr auf die Schulter.
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