Tishanea konnte sich an nichts erinnern, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Siegesfeier besessen hätte. Sie erinnerte sich nur an die Mischung aus Entsetzen, Erleichterung, Trauer und Zorn, die am Ende der fünfjährigen Fehden in den Worten und auf den Mienen der Erwachsenen gelegen war. Erleichterung darüber, dass der Krieg vorüber war. Entsetzen und Trauer über die vielen toten Wasserhaften. Zorn, weil es den Seestädtern nicht gelungen war, die Oberhand über Felsstadt und Erdstadt zu erlangen. Die Schlacht an der Felsengrenze musste auch die Wasserhaften an das Ende ihrer Kräfte gebracht haben. Sonst wären sie nie bereit gewesen, die Fehden zu beenden und zuletzt sogar der Vereinigung von Seestadt, Erdstadt und Felsstadt zu Dreistadt zuzustimmen. Wie konnte es also sein, dass diese steinerne Woge symbolhaft Erdstadt und Felsstadt unter sich begrub? Wie konnte dieses Denkmal von einem Sieg der Wasserhaften künden? Dennoch stand es hier. Dennoch hatte ihre Mutter mit unverbrüchlicher Überzeugung gesprochen. Nagender Zweifel sickerte in Tishanea ein. Wenn sie nicht einmal ihr Elternhaus wiedergefunden hatte – wie konnte sie dann ihren Erinnerungen an das Ende der fünfjährigen Fehden trauen? Sie wusste nur, was sie im Haus des dreifachen Friedens gelernt hatte. Und diese Schule war zu einem bestimmten Zweck gegründet worden: Ihre Zöglinge sollten den Frieden zwischen den drei Haftigkeiten bewahren. Sie sollten verhindern, dass Dreistadt wieder auseinander fiel. Also musste den Friedenslehrern alles daran liegen, die Gründung von Dreistadt als einzig mögliches Ende der fünfjährigen Fehden darzustellen. Geschlagene Erdhafte und Felshafte, die den ebenso großzügigen wie unklugen Wasserhaften Friedensverhandlungen abrangen, hätten nicht in dieses Bild gepasst. Die Gründer von Dreistadt waren nicht davor zurückgeschreckt, das Los über siebenjährige Kinder zu werfen und sie ihren Familien zu entreißen. Warum hätten sie also davor zurückschrecken sollen, diesen Kindern Lügen einzuflößen? Was hätte die Friedenslehrer davon abgehalten, einen Sieg der Wasserhaften als Katastrophe für alle drei Haftigkeiten zu verkaufen? Sie konnten den Zöglingen alles einreden, solange sie verhinderten, dass die Zöglinge auch die andere Seite zu hören bekämen. Verwirrt ließ Tishanea ihre Hand sinken, die geistesabwesend über den steinernen Brecher geglitten war. Wer sagte die Wahrheit? Ein Blick auf Rabess erinnerte Tishanea schmerzhaft an ihre erste Begegnung am Vortag – diese harten Züge, diese schmalen Augen...
„Mutter... Ich war noch so klein, als ich von zu Hause weggeholt wurde. Ich kann mich an so vieles nicht erinnern. Und die Leute, bei denen ich aufwuchs, waren ziemlich seltsam. Ich sollte nichts von dem wiederholen, was sie sagten – ich will auch gar nicht über sie sprechen.“
Rabess schüttelte den Kopf. „Das müssen in der Tat komische Leute sein. Kein Zweimündner, mit dem ich jemals sprach, wäre auf so fischköpfige Ideen gekommen. Außerdem bist du so... verändert. Als hättest du nicht in einer anderen Stadt gelebt, sondern auf einem anderen Ozean.“
Ein Schauer lief über Tishaneas Rücken. „Ich durfte für viele Jahre kaum das Haus verlassen. Mir ist jede Stadt fremd – sogar Zweimündung.“
Völlig unvermittelt brachen Rabess’ harte Züge auf. Sie ließ ihren Korb fallen, schlang ihre Arme um Tishanea und drückte sie an sich. „Diese Gleichheitsfanatiker vom Mittleren Grund sind an allem schuld! Sie haben dich damals geraubt! Wenn es dir nur früher möglich gewesen wäre, nach Seestadt zurückzukommen! Es tut mir so weh, dass dir so vieles fremd ist – und dass mir so vieles an dir fremd ist! Ich wünschte, ich könnte alles Fremde aus dir herausschwemmen! Aber es ist gut, dass ich es nicht kann! Nach so vielen Jahren müsste ich fürchten, dass dann gar nichts mehr übrig bliebe!“ Rabess löste sich von ihrer Tochter und fuhr sich über die Augen. „Wir sollten jetzt besser unsere Einkäufe machen, bevor der Markt schließt. Wir brauchen Wasserkastanien und frischen Seetang für das Abendessen.“
Tishanea folgte Rabess wie benommen. War es wirklich so schlimm? Würde nichts von ihr übrig bleiben, wenn man ihr alles Fremde aus dem Haus des dreifachen Friedens wegnahm?
***
Auf dem Heimweg entdeckte Tishanea Riesche auf einem der unbebauten Floßplätze. Sie saß neben einem jungen Wasserhaften unter einem Sonnensegel und schien völlig ins Gespräch vertieft zu sein. Doch als auch Rabess ihre ältere Tochter bemerkte und auf sie zusteuerte, sprang Riesche sofort auf.
„Es tut mir so Leid, Mutter!“ rief sie. „Ich habe völlig auf die Nautilusschalen vergessen! Ich helfe dir morgen, sie zum Händler zu bringen – versprochen!“
Die überschwängliche Entschuldigung versetzte Tishanea in Erstaunen. Es passte nicht zu ihrer kühlen, schnippischen Schwester, wegen einer solchen Kleinigkeit außer sich zu geraten. Freilich waren glänzende Augen und gerötete Wangen nicht unbedingt ein Zeichen von Schuldgefühlen... Tishanea ließ ihren Blick zu Riesches Begleiter weiterschweifen. Der Wasserhafte hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben und stand in einigen Fischlängen Entfernung. Er hielt sich mit jener Art von Selbstsicherheit, die weit genug von Arroganz entfernt war, um echt zu sein. Seine Gestalt war nicht von einem harten, einseitigen Handwerk geformt. Sie wirkte so gleichmäßig gestählt wie ein Kriegerdenkmal und strahlte auch dieselbe Lässigkeit aus – eine Lässigkeit, die jederzeit in Spannung umschlagen konnte. Eine Reihe eingeflochtener Zöpfe ließ scharfe, aber harmonische Gesichtszüge hervortreten. Die blaugrauen Augen mit ungewöhnlich langen Wimpern schienen überall gleichzeitig zu sein und dennoch jede Einzelheit aufzunehmen. Tishanea fühlte, wie sie blass wurde, als sein Blick kurz an ihr hängen blieb. Es hatte etwas Vernichtendes, von diesen Augen nur gestreift zu werden. Dagegen verriet Riesches Miene, welche Gefühle ein längerer Blick auslösen konnte.
„Schon gut,“ nahm Rabess Riesches Entschuldigung an, wenn auch nicht ohne Schärfe. „Die Nautilusschalen sind trotzdem beim Händler abgeliefert worden. Tishanea hat mir geholfen. Friedliche abendliche Ebbe, Fjurosch.“
In wortloser Höflichkeit führte der Wasserhafte die rechte Faust zur gesenkten Stirn.
Rabess holte tief Atem, als wollte sie zu einer längeren Rede ansetzen. Doch dann erkundigte sie sich nur: „Wirst du zum Abendessen zu Hause sein, Riesche?“
„Nein, nicht heute.“
„Nun, dann – habt einen schönen Abend, ihr zwei!“
Unter allgemeinem Abschiedsnicken setzten Tishanea und ihre Mutter ihren Heimweg fort.
Nach einer Weile seufzte Rabess tief. „Da predige ich eurem Vater Geduld, und dann stehe ich jedes Mal selbst kurz davor, Fjurosch zum Abendessen einzuladen, wenn ich ihn mit Riesche sehe. Er geht uns zwar nie aus dem Weg, aber er ist so reserviert, dass ich immer noch nichts über ihn weiß. Riesche erzählt auch nichts über ihn, aber das tut sie ja nie. Ich weiß nicht einmal, was sein Beruf ist und in welchem Teil von Seestadt er wohnt. Er kommt jedenfalls nicht aus unserem Viertel – die Nachbarn kennen ihn alle nicht. Vielleicht sollte ich Riesche doch dazu bringen, ihn zu uns nach Hause einzuladen.“
Tishanea brannte darauf, Fjurosch wiederzusehen und mehr über ihn zu erfahren. Aber gerade die Heftigkeit ihres Wunsches warnte sie davor, ihm nachzugeben. Mehr als eine Frau, die in Fjuroschs Gegenwart glänzende Augen und rote Wangen bekam, wäre zu viel für eine Familie. Besser, sie hielt sich von Fjurosch fern – und Fjurosch von ihrem Elternhaus.
„Ich weiß nicht,“ erwiderte Tishanea deshalb. „Gerade wenn Fjurosch so reserviert ist, ist eine Einladung wahrscheinlich keine gute Idee. Ihr würdet dann auch bei einem Abendessen nicht mehr über ihn erfahren. Stattdessen würden sich alle unwohl fühlen – Fjurosch, weil er reden soll und nicht will, Vater und du, weil ihr immer noch nichts über ihn erfahrt, und Riesche, weil sie Fjurosch noch gar nicht nach Hause einladen wollte.“
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