„Wahrscheinlich hast du Recht.“ Rabess seufzte erneut. „Bei zurückhaltenden Leuten bleibt einem nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie selbst dazu bereit sind, etwas von sich preiszugeben. Aber es ist nicht einfach für mich, wenn Riesche mit jemandem unterwegs ist, den ich überhaupt nicht kenne. Nicht, dass ich Fjurosch irgendetwas Böses unterstellen will – bewahre! Und Riesche kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Nur leider ist euer Vater in solchen Dingen noch ungeduldiger als ich. Er wird dann unausstehlich. Und gerade bei einer solchen Auster wie Fjurosch – irgendwann will ich dann doch wissen, was unter dieser dicken Schale ist.“
„Manche haben eine besonderes dicke Schale, um zu verbergen, dass darunter gar nichts ist,“ gab Tishanea gedankenverloren von sich. Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können. Mit dieser „Weisheit“ hatte Schurac stets versucht, sie zu mehr Anteilnahme am Leben im Haus des dreifachen Friedens zu drängen. So klug es auch sein mochte, Fjurosch von sich fernzuhalten – sie wollte es wahrlich nicht mit Schuracs Worten tun. Noch dazu konnten diese Worte auf niemanden weniger zutreffen als auf Fjurosch. Leere Austernschalen würden keinen solchen Eindruck hinterlassen.
Rabess lachte. „Das hat Mutter auch immer gesagt. Lustig, dass du dich als Erste daran erinnert hast.“
Tishanea brachte ein schiefes Lächeln zustande. Wenn sie bei ihren Worten nur wirklich an Großmutter gedacht hätte!
„Da seid ihr ja endlich!“ begrüßte Goschub Rabess und Tishanea. „Ich dachte schon, ich müsste heute altes Fischleder zum Abendessen kochen. Her mit den Körben!“
Vier Wochen später erwachte Tishanea mitten in der Nacht, weil sie trotz ihrer Decke fröstelte. Offenbar wurde es Zeit, die geknüpfte Hängematte mit den Seehundfellen auszukleiden. Auch in den Morgenstunden wollte die empfindlich kühle Luft über Seestadt sich nicht erwärmen. Noch kühler blies der Wind auf See. Vergeblich versuchte Tishanea, Goschubs Stirnrunzeln zu ignorieren, während sie bibbernd über das Deck stapfte. Am Nachmittag, nach dem Einlaufen im Hafen, konnte sie ihrem Vater nicht länger ausweichen. Er hielt sie an der Schulter fest.
„Du solltest morgen wärmere Kleidung anziehen, nachdem du die Temperaturen auf See um diese Jahreszeit nicht mehr gewöhnt bist. Dass wir unsere Westen und Umhänge noch nicht ausgepackt haben, soll dich nicht davon abhalten, dich vor dem Erfrieren zu retten.“
Tishanea biss sich auf die Lippen. „Ich weiß nicht, ob ich genug Geld für Winterkleidung habe.“
In Wahrheit wusste sie genau, dass sie zu wenig Geld für Winterkleidung aus Seehundfell hatte. Bevor sie nach Seestadt aufgebrochen war, hatte Schurac ihr gerade genug Silberstücke für zwei Wochen in einem Hafengasthof gegeben. Was davon übrig geblieben war, würde niemals für eine Weste, einen Umhang und ein Paar Fischlederstiefel reichen. Stattdessen erinnerten die Münzen sie ständig daran, dass sie bereits einen Rapport im Haus in der Krakengasse versäumt hatte. Und dass heute der zweite fällig war.
Goschub sah sie mit hochgezogener Braue an. „Dass du nicht genug Geld für Winterkleidung hast, überrascht mich nicht. Dass du keine Winterkleidung aus Zweimündung mitgebracht hast, wundert mich viel mehr.“
Hilflos hob Tishanea die Schultern. Wann würde es ihr endlich erspart bleiben, Lügen über Zweimündung zu erfinden? „Ich wusste ja nicht, wie die Dinge hier in Seestadt laufen würden... Und seetauglich wäre meine Zweimündner Winterkleidung ohnehin nicht gewesen.“
Goschub lachte heiser. „Das kann ich mir vorstellen – die Gelehrten hocken im Winter so nahe am Feuer wie möglich. Dann wird wohl dein Vater etwas tun müssen, um dich vor Frostbeulen zu bewahren. Ich nehme dich morgen Abend mit zu einem Freund von mir. Er verkauft die beste Seehundfellkleidung in ganz Seestadt.“
Tishanea lächelte Goschub dankbar an, bevor sie sich eilig abwandte. Ihr Vater mochte keine Gefühlsausbrüche. Das Strahlen, das sich nun auf ihrem Gesicht ausbreitete, hätte er für völlig übertrieben gehalten. In seinen nüchternen Augen gehörte Winterkleidung aus Seehundfell zum Leben wie der tägliche Fisch. Doch für Tishanea bedeutete diese Winterkleidung, dass sie wieder voll und ganz in ihre Familie aufgenommen war. Natürlich wäre es Rabess und Goschub nie eingefallen, ihre Tochter erfrieren zu lassen. Aber sogar für eine Fischerfamilie ohne Geldsorgen war Winterkleidung aus Seehundfell teuer. In einer Weste und einem Umhang steckten mindestens vierzig Fischzüge – gute Fischzüge. Statt Seehundfell für sie zu kaufen, hätten ihre Eltern sie genauso gut zu Hause lassen können. Sie wurde auf der „Seelöwin“ nicht unbedingt gebraucht, und für die Straßen von Seestadt hätte ein billigerer Wollumhang gereicht.
„Gut, dass ich jetzt weiß, dass du keine Winterkleidung aus Zweimündung mitgebracht hast.“ Grinsend trat Schirron zu Tishanea an die Reling. „Ich habe mir schon Gedanken über deinen Geisteszustand gemacht, weil du lieber die perfekte Nachahmung eines Zitterrochens geliefert hast statt eine Weste anzuziehen.“
Tishanea war immer noch damit beschäftigt, ihr Strahlen unter Kontrolle zu bekommen. Ohne ihren Bruder anzusehen, gab sie im selben Ton zurück: „Ich befolge nur Vaters Ratschläge. Er sagt doch immer, dass wir beim Fischen wie die Fische denken sollen. Ich wollte eben wissen, wie es ist, ein Zitterrochen zu sein.“
Schirrons Antwort ging im plötzlichen Rauschen in Tishaneas Ohren unter. Ihr geistesabwesender Blick hatte verfolgt, wie sich draußen auf dem Kai ständig eine Gasse im nachmittäglichen Gedränge bildete, als würde Wasser um einen Felsen herumfließen – bis ihr schlagartig klar geworden war, dass die Seestädter einem grimmig dreinsehenden Wasserhaften auswichen, der selbst die größten unter ihnen weit überragte. Panisch schwang Tishanea sich über die Reling und ließ sich zwischen den ankernden Schiffen ins Wasser fallen. Noch schien Schurac sie nicht gesehen zu haben. Er war weder auf den Pier zugegangen, an dem die „Seelöwin“ lag, noch hatte er in ihre Richtung geblickt. Aber zweifellos hielt er nach seinem verschwundenen Zögling Ausschau, nachdem er in der Krakengasse vergeblich auf sie gewartet hatte.
Schirron sah von Bord auf seine Schwester herunter und schüttelte den Kopf. „Ich nehme zurück, was ich über deinen Geisteszustand gesagt habe. Anscheinend bist du doch nicht ganz richtig im Kopf. Was soll das jetzt? Noch ein Ausflug in die Lebenswelt der Fische? Versuchst du herauszufinden, wie sich die Äschen im dreckigen Hafenwasser fühlen?“
„Ähhh – nein. Ich will einfach noch einmal eine lange Strecke im Meer schwimmen, bevor es endgültig zu kalt dafür sein wird. Wir sehen uns zu Hause!“
Tishanea holte tief Atem und tauchte in einem Zug unter den nächsten zehn Schiffsleibern durch. Nun würde Schirron sie erst recht für verrückt halten. Manche Seestädter gingen schon bei diesen Temperaturen nur dann ins Wasser, wenn sie mussten. Und niemand schwamm freiwillig im Hafenbecken. Doch nichts hätte Tishanea dazu bewegen können, auf die „Seelöwin“ oder gar auf den Pier zurückzukehren. Sie wäre noch viel weiter in viel schmutzigerem und viel kälterem Wasser geschwommen, wenn sie dadurch Schurac entkommen konnte.
***
„Hoi!“ rief Riesche vom Ausguck herab. „Verlorener hart backbord, ungefähr dreihundert Fischlängen!“
Die Taue knarrten, als Goschub den Kurs der „Seelöwin“ änderte. „Schirron, hol die Haken! Rabess, übernimm das Steuer!“
Ohne zu wissen, wonach sie Ausschau hielt, spähte Tishanea über die Backbordreling auf das Wasser hinaus.
„Verlorener?“ fragte sie ihren Bruder, sobald er neben ihr auftauchte.
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