„Eigentlich ging es mir um etwas anderes,“ knurrte Tishanea. „Nämlich darum, dass man sich von niemandem zu irgendetwas zwingen lassen sollte.“
„Wo liegt der Unterschied? Schließlich heißt das auch, dass man sich nicht dazu zwingen lassen sollte, die Urteile anderer Leute zu übernehmen.“ Schirron grinste und stand auf, weil Goschub ihm ein Zeichen machte, den Anker zu werfen.
***
Angewidert betrachtete Tishanea ihre Handflächen. Sie waren von Schnittwunden übersät. Die scharfen Schnüre der Fischernetze hatten wie Messer durch die dünne Haut geschnitten. Rabess stellte eine Schüssel vor Tishanea ab.
„Hier, halte deine Hände in diesen Sud. Das wird helfen.“
Der scharfe Geruch weckte unangenehme Erinnerungen an eine böse Schürfwunde, die Tishanea sich zugezogen hatte, als sie zum ersten Mal bis zur Mastspitze hinaufgeklettert war. Vorsichtshalber biss sie gleich die Zähne zusammen, bevor sie ihre Hände in die Flüssigkeit tauchte. Es brannte wie hundert Quallen.
„Und du hast dir Sorgen über deinen Decksschritt gemacht,“ spöttelte Goschub über den Tisch hinweg. „Dabei sind deine zarten Gelehrtenhände das Problem.“
Tishanea starrte in die Schüssel. Wieso „Gelehrtenhände“? Meinte ihr Vater, dass die Hornhaut auf den Händen einer Hausdienerin dick genug sein müsste, um einem Fischernetz standzuhalten? Ahnte er etwas?
„Ein wenig Gelehrsamkeit täte dieser Familie ganz gut,“ meinte Rabess beiläufig. „Hornhaut gibt es bereits mehr als genug.“
Goschub schnaubte. „Nur weil Tishanea die Hände einer Gelehrten hat, heißt das noch lange nicht, dass sie auch Gelehrsamkeit im Kopf hat. Schließlich war sie in ihrer Schule eine Dienerin und keine Schülerin.“
Noch bevor Tishanea sich beruhigen konnte, weil ihr Vater die Geschichte über ihren Dienst glaubte, stürzte Rabess sie in neue Aufregung:
„Trotzdem hat Tishanea zweifellos vieles aufgeschnappt. Vielleicht versuchst du zur Abwechslung, herauszubekommen, was deine Tochter weiß und kann, statt darauf herumzureiten, dass sie nicht schon wieder eine Fischerin ist?“
Der Sud in der Schüssel schlug leise Wellen, obwohl Tishanea angestrengt versuchte, ihre Hände vom Zittern abzuhalten. Es rührte sie, dass ihre Mutter sie verteidigte und mehr über sie erfahren wollte. Aber Fragen über ihr früheres Leben dräuten wie ein zersplitterter, schwankender Schiffsmast über ihr!
„Sie ist da, weil sie ihre Familie wiederfinden wollte,“ brummte Goschub. „Sie hat ihre Familie wiedergefunden. Und wenn sie nun etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen will, dann muss sie eine Fischerin sein und keine Schuldienerin. In Seestadt gibt es nämlich keine Schulen, die Schuldiener halten.“
Die gefürchteten Fragen blieb aus, der schwankende Mast hielt. Trotzdem fühlte Tishanea Bitterkeit statt Erleichterung aufsteigen. Sofort schalt sie sich dafür. Es war dumm, sich über Goschubs Teilnahmslosigkeit zu kränken, wenn er sie dadurch vor viel größerem Schaden bewahrte. Wenn es um ihre Vergangenheit ging, konnten ihre Eltern es ihr nicht recht machen. Die Lügen, die sie aus Haus des dreifachen Friedens mitgenommen hatte, standen zwischen ihnen.
„Wo ist Riesche?“ wechselte Rabess endlich das Thema. „Sie wollte mir helfen, die polierten Nautilusschalen zum Händler zu tragen. Wenn wir nicht bald aufbrechen, wird es zu spät.“
„Ich habe sie vorher mit Fjurosch gesehen. Also wird sie wahrscheinlich nicht so bald wieder auftauchen.“ Goschub lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Sie soll Fjurosch endlich einmal zum Abendessen mitbringen. Sie trifft ihn nun schon seit Wochen fast jeden Tag, und ich will endlich wissen, was das für ein Wasserhafter ist.“
Rabess winkte ab. „Du wirst ihn schon noch kennenlernen. Sei nicht immer so ungeduldig, wenn eines deiner Kinder sich mit jemandem trifft, den du nicht kennst.“
Das Trommeln auf der Tischplatte wurde härter. „Ich will nicht wieder solchen Streit wie vor zwei Jahren wegen diesem... Wie hieß er noch – der Kerl, der Locken hatte wie ein Dreckwühler und sein Haar offen trug?“
„Schowis. Darüber brauchst du dir wirklich keine Sorgen mehr zu machen. Du weißt genau, warum Riesche sich zuletzt von Schowis trennte – weil ihr genau das zu viel wurde, was dir von Anfang an ihm missfallen hat.“
Goschub murmelte nur noch etwas Unverständliches, bevor er aufstand und die Wohnküche verließ.
Unschlüssig musterte Rabess die beiden Säcke voll polierter Nautilusschalen. Sie hob sie probeweise hoch und schüttelte den Kopf. „Sinnlos. Das Gewicht wäre ja kein Problem, aber wie soll ich mich mit diesen riesigen Säcken durch die Gassen drängen, ohne die Schalen zu beschädigen?“
„Ich kann dir helfen, die Säcke zum Händler zu bringen,“ bot Tishanea an. Ihre Hände waren vergessen, bis Rabess’ skeptischer Blick zu der Schüssel wanderte. „Das heißt – ich könnte dir helfen, falls ein Paar Handschuhe im Haus wäre, das mir passt.“
***
Die Handschuhe aus Fischleder halfen nur wenig. Jedes Mal, wenn die Tragschnur des Sacks sich tiefer in ihre Handflächen grub, biss Tishanea die Zähne zusammen. Sie war heilfroh, als sie bei dem Händler ankamen. Rabess wollte zwar noch für das Abendessen einkaufen, aber den Einkaufskorb konnte Tishanea über ihren Arm hängen. An der Ecke zum Hafenmarkt stieß Tishanea auf ein Denkmal, das ihr völlig fremd war. Sie hatte nicht einmal die dunkelste Kindheitserinnerung an diese übermannshohe Meereswoge, die auf kunstvoll gemeißelte Äcker, Häuser und Felsgipfel hereinstürzte. Genauso wenig kannte sie das Denkmal aus den Büchern über Seestadt, die in der Bibliothek des Hauses des dreifachen Friedens standen. Gemessen an dem strahlenden Weiß des Korallenkalks konnte es noch nicht alt sein. Langsam umrundete Tishanea den steinernen Brecher.
„Dieses Denkmal kennst du noch nicht, oder?“ Rabess lächelte stolz. „Es erinnert an die Schlacht an der Felsengrenze.“
Tishanea blieb abrupt stehen. Die Schlacht an der Felsengrenze war das letzte Gefecht der fünfjährigen Fehden gewesen. Die Wasserhaften und Felshaften hatten sie begonnen, um ein für alle Mal zu entscheiden, wer von ihnen über alle drei Haftigkeiten herrschen würde. Doch die Erdhaften waren noch nicht besiegt gewesen. Sie hatten ihre Kräfte aufgespart, um sich im richtigen Moment gegen ihre wasserhaften und felshaften Besatzer aufzubäumen. Tagelang war die Schlacht hin- und hergewogt. Keine der drei Seiten hatte die Oberhand gewinnen können.
Unwillkürlich murmelte die Tishanea die Lektion, die sie so oft im Haus des dreifachen Friedens gehört hatte: „Mehr als zweihundert Tote, dreimal so viele Verletzte, ein abgebrannter Wald, eine eingestürzte Erzgrube. Die drei Städte an der Kippe zwischen Leben und Tod.“
„Was sagst du da?“ fragte Rabess scharf.
Tishanea begann, die Worte deutlicher zu wiederholen. Doch ihre Stimme erstarb unter dem Zorn, der auf der Miene ihrer Mutter aufbrandete.
„Das wird in Zweimündung über die Schlacht an der Felsengrenze gelehrt?“ Rabess stemmte entrüstet die Hände in die Hüften. „Großer Himmelsblauwal! Das ist ungeheuerlich! Die Zweimündner sollten es wirklich besser wissen! Natürlich sind viele gefallen – auch einige unserer größten wasserhaften Helden! Aber es standen doch nicht alle drei Städte an der Kippe! Nur Erdstadt und Felsstadt! Mit der Schlacht an der Felsengrenze haben wir die Erdhaften und die Felshaften zu Friedensverhandlungen gezwungen! Denn nach dieser Schlacht wussten sie, dass Friedensverhandlungen ihre einzige Rettung waren! Vielleicht hätten wir gerade deshalb bis zum Ende weiterkämpfen sollen! Der Friedensschluss hat uns Wasserhafte viel gekostet – womöglich zu viel! Aber die Schlacht an der Felsengrenze war ein großer Sieg! Ich kann nicht glauben, dass du dich nicht mehr an die Feiern danach erinnerst – du warst doch damals schon sechs Jahre alt!“
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