1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 „Tisha?“
Tishanea wappnete sich für eine gut gemeinte, aber unerwünschte Erkundigung nach ihrem Befinden und wandte sich zu ihm um.
Schirron wies auf ein Bündel Fischernetze im Bug der „Seelöwin.“ „Kannst du mir helfen, diese Netze zu überprüfen und – wenn Löcher drin sind – zu reparieren?“
Nichts hätte Tishanea lieber getan, als sich bei einer Arbeit nützlich zu machen, die sie sitzend verrichten konnte. „Ja – natürlich.“
Sie folgte ihrem Bruder zum Bug und ließ sich mit gekreuzten Beinen nieder. Anfangs sah sie mehr auf Schirrons Finger statt auf das Netz in ihren eigenen Händen. Endlich erinnerte sie sich an die richtigen Knoten und konnte ernsthaft zu arbeiten beginnen.
„Was für Schiffe gibt es in Zweimündung?“ platzte Schirron nach einer Weile heraus.
Tishanea fuhr zusammen und riss beinahe ein weiteres Loch in ihr Netz. „Äh... in Zweimündung laufen zwei kleinere Flüsse in den Großen Strom – wie der Name schon sagt. Es gibt also alle möglichen Boote für die Flussschifffahrt, größere und kleinere... Ich hatte nie viel Gelegenheit dazu, die Schiffe im Hafen anzusehen. Wieso fragst du?“
„Ach, nur so...“ Schirron winkte ab.
Plötzlich fand Tishanea es schwer, ihre Finger dazu zu bewegen, Schnüre abzutasten und Knoten zu schlingen. Wollte ihr Bruder ihr Wissen über Zweimündung testen? Bezweifelte ihre Familie bereits, dass sie dort gelebt hatte?
Viel leiser als zuvor fuhr Schirron schließlich doch fort: „Ich habe gehört, dass es in Zweimündung eine Werft gibt, die mit einem neuen Schiffstyp experimentiert. Diese Schiffe sollen besonders leicht zu rudern sein. Ich interessiere mich sehr für den Schiffsbau, weißt du...“
Tishaneas Finger gehorchten ihr wieder. Unendlich erleichtert nahm sie den Faden auf: „Warum beginnst du dann keine Lehre in einer Werft? Vater und Mutter haben immer gesagt, dass wir nicht unbedingt Fischer werden müssen – zumindest als wir noch klein waren. Am Ende kann sowieso nur einer von uns drei die ,Seelöwin’ übernehmen.“
„Nein, es ist nicht so, dass ich unbedingt Fischer werden soll...“ Schirron seufzte. „Es ist aus einem anderen Grund schwierig. Vater möchte nicht, dass ich eine Lehre in einer Werft beginne, weil das meiste Holz, das in Dreistadt für den Schiffsbau verwendet wird, von den Erdhaften geschlägert und verkauft wird. Und weil fast alle Metallteile von den Felshaften gemacht werden. Vater will nicht, dass ich einen Beruf habe, bei dem so viel von der Arbeit der Erdhaften und Felshaften abhängt.“
„Was glaubt er denn, wo das Holz und die Nägel für die ,Seelöwin‘ hergekommen sind?“ wollte Tishanea wissen. Im nächsten Moment presste sie erschrocken ihre Lippen aufeinander. Solch bissigen Ton hatte sie sich vielleicht im Haus des dreifachen Friedens erlauben können. Dort war schließlich allen egal gewesen, wie sie sich fühlte. Doch Goschub wollte das Beste für sie, also schuldete sie ihm Respekt.
Schirron schien nichts dabei zu finden und hob die Schultern. „Die ,Seelöwin’ ist schon ein recht altes Schiff. Vielleicht wurde das Holz für ihren Bau noch von Wasserhaften geschlägert. Früher war das Flussufer ja noch nicht so stark gerodet wie heute. Weiter flussaufwärts – in Zweimündung und in anderen Städten – fällen die Wasserhaften immer noch selbst. Wenn wir Holz für Reparaturen brauchen, kauft Vater welches aus Zweimündung. Obwohl es viel teurer ist als das Holz aus Dreistadt.“ Er schüttelte sanft den Kopf. „Ich habe schon überlegt, ob ich eine Lehre in Zweimündung beginnen soll. Aber das wäre wieder Mutter nicht recht. Und ich wäre auch nicht wirklich glücklich damit. In Zweimündung werden nur Flussschiffe gebaut, und ich will auch Seeschiffe bauen. Das kann ich nur in Seestadt tun – oder in Städten, die noch viel weiter weg liegen als Zweimündung. Dabei wäre es mir eigentlich schon nach Zweimündung zu weit. Ich möchte in Seestadt bleiben.“
Tishanea wusste nicht, was sie sagen sollte. Goschubs Einwände gegen Schirrons Traum gefielen ihr nicht. Dann kam das Holz für die Schiffe eben aus Erdstadt, und die Metallteile aus Felsstadt – und? Dafür aß ganz Dreistadt Seestädter Fisch, verwendete Körbe aus Seestädter Schilf und machte seine Nahrung mit Seestädter Meersalz haltbar. Sogar vor der Gründung von Dreistadt hatten die Wasserhaften, Erdhaften und Felshaften miteinander Handel getrieben. Wieso sollte also dieser Handel Schirron daran hindern, sein Glück zu finden? Am liebsten hätte Tishanea ihren Bruder dazu ermuntert, sich nicht von Goschub aufhalten zu lassen. Aber gleichzeitig schreckte sie davor zurück, so kurz nach ihrer Rückkehr Unfrieden zu stiften. Zuletzt flüchtete Tishanea in eine Richtung, in der keine Uneinigkeit lauerte:
„Es ist wirklich keine schöne Vorstellung, in einer anderen Stadt leben zu müssen.“
„Eine Vorstellung?“ Schirron lachte. „Für dich ist es doch mehr als eine Vorstellung! Erzähl mir etwas von Zweimündung! Vielleicht wäre es doch nicht so schlimm, dort eine Lehre zu machen – auch wenn ich dann nur Flussschiffe bauen würde.“
Tishaneas Finger krampften sich in das Netz. Der Fluchtversuch hatte sie in noch gefährlichere Gewässer geführt. Fieberhaft suchte Tishanea nach einem Ausweg.
„Das Meer fehlt einfach, Schirron.“ Zumindest hatte ihr im Haus des dreifachen Friedens das Meer am meisten gefehlt – abgesehen von ihrer Familie natürlich. „Und ohne Familie... Weißt du, am liebsten würde ich die Zeit in Zweimündung einfach vergessen.“
Schirron wiegte nachdenklich den Kopf. „Das spricht echt nicht für Zweimündung. Wenn du alle zwölf Jahre dort vergessen willst, ist es wirklich besser, ich bleibe zu Hause – und Fischer.“
Tishanea wand sich innerlich. Ihre Lügen durften Schirron nicht beeinflussen. Er sollte seine Entscheidungen völlig frei treffen können – so frei, wie sie nie gewesen war.
„Schirron – die letzten zwölf Jahre waren wirklich eine schwere Zeit für mich. Aber das hatte nichts mit der Stadt zu tun, in der ich lebte – sondern damit, wie ich dort leben musste! Ich war völlig abhängig von fremden Leuten, die mich herumkommandieren konnten, und die darüber bestimmten, wohin ich gehen durfte und wohin nicht. Ein solches Leben macht jede Stadt unerträglich – sogar die eigene Heimatstadt. Für jemanden, der nach Zweimündung geht, um sich dort einen Traum zu erfüllen, sieht die Stadt bestimmt völlig anders aus. Wenn du wissen willst, ob du in einer Werft in Zweimündung glücklich sein würdest, musst du selbst hinfahren!“
Für einen Moment saß Schirron sprachlos, dann kratzte er sich den Kopf. „Irgendetwas müssen die in Zweimündung trotz allem richtig gemacht haben – mit dir, meine ich. Obwohl du Zweimündung hasst, glaubst du immer noch, dass andere die Stadt schön finden könnten. Und obwohl du dich die ganze Zeit nach Seestadt gesehnt hast, bist du nicht davon überzeugt, dass ein Leben hier auf jeden Fall ein großartiges Leben sein muss. Das ist eine ganz andere Sicht als die der meisten Leute.“ Schirron vollführte eine vage Geste, die Goschub, Rabess und Riesche einschloss. „Dabei kennen diese Leute meistens nichts anderes als ihre Heimatstadt... Du erinnerst mich an Assoran – einen meiner früheren Lehrer. Er hat mindestens fünf wasserhafte Städte bereist und war sogar in einigen erdhaften und felshaften Städten – natürlich nicht in Erdstadt und Felsstadt, obwohl sie direkt vor unserer Nase liegen. Dort darf ja wegen der Haftigkeitsbeschränkung kein Wasserhafter rein. Jedenfalls mahnte Assoran uns immer, dass wir nichts beurteilen sollten, was wir nicht mit eigenen Augen gesehen haben.“
Ohne jeden Zweifel meinte Schirron den Vergleich mit diesem Assoran als Kompliment. Trotzdem vermochte Tishanea sich nicht darüber zu freuen. Ein Wasserhafter, der erdhafte und felshafte Städte besuchte – das klang zu sehr nach einem Mann, den die Friedenslehrer als leuchtendes Beispiel für ein friedliches Zusammenleben der drei Haftigkeiten gepriesen hätten. Wenn ihre Worte Schirron an einen solchen Mann erinnerten, hatte sie wohl mehr aus dem Haus des dreifachen Friedens mitgenommen als ihr lieb sein konnte. Einen solchen Mann würde Goschub gewiss keinen „wahren Wasserhaften“ nennen.
Читать дальше