Goschub bedachte Schirron mit einem kritischen Stirnrunzeln. „Natürlich nicht. Der Sturm wird noch mindestens bis zum Abend dauern. Niemand wird morgen schon auf Fischzug gehen können, wegen der rauen See.“
Schirron biss sich auf die Lippen und blieb wie verankert stehen.
Goschub legte sein Messer beiseite. Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer. „Das war offensichtlich noch nicht alles. Los, raus damit!“
Nach einigen tiefen Atemzügen straffte Schirron seine Schultern. „Ich werde morgen eine Lehre beginnen. In Figass’ Werft.“
Einen Lidschlag lang saß Goschub wie vom Zitterrochen gestreift, dann donnerte seine Faust auf die Tischplatte. „Was habe ich dir über den Schiffsbau gesagt, Sohn? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das vergessen hast – ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass irgendetwas vorgefallen sein soll, das all meine Einwände fortschwemmt! Sag mir also, Schirron – leidest du an Gedächtnisschwund, oder an dem plötzlichen Wahn, die Welt besser zu kennen als dein Vater?“
Schirron schluckte, doch er hielt Goschubs Blick stand. „Ich leide weder an Gedächtnisschwund noch an irgendeinem Wahn. Aber ich will die Welt selbst besser kennenlernen – vielleicht sogar noch besser als du!“
Der Stuhl kippte polternd um, als Goschub aufsprang. „Du willst die Welt selbst besser kennenlernen?“ brüllte er seinem Sohn ins Gesicht. „Hältst du es wirklich für sinnvoll, dass jede Generation wieder und wieder die gleiche Lektion lernt? Wenn du die Welt besser kennenlernen willst als ich, dann bau auf dem auf, was ich schon weiß, statt alle meine Erfahrungen zu wiederholen!“
„Ich will Schiffe bauen,“ beharrte Schirron ruhig. „Und du hast keine Erfahrungen im Schiffsbau. Also muss ich meine eigenen Erfahrungen machen.“
„Deine eigenen Erfahrungen!“ höhnte Goschub. „Glaubst du wirklich, ich lasse es zu, dass du an deinem eigenen Leib erfahren musst, wie es ist, wenn man bei seiner Arbeit vollkommen von den Dreckwühlern und den Bergziegen abhängig ist? Es ist schon als Fischer schlimm genug in dieser Stadt, obwohl wir keineswegs von den Dreckwühlern und Bergziegen abhängig sind!“
„Auch die Fischer sind nicht von den Erdhaften und von den Felshaften unabhängig – genauso wenig, wie sie von uns Wasserhaften unabhängig sind! Und wie willst du verhindern, dass ich meine eigenen Erfahrungen mache? Wie willst du verhindern, dass ich die Lehre in der Werft anfange? Willst du mich tagsüber an den Mast der ,Seelöwin’ binden und mich nachts im Haus einsperren?“ Schirrons Stimme zitterte leicht, aber seine Haltung blieb entschlossen.
Goschub schien vor Zorn anzuschwellen. „Ich könnte dich sofort aus dem Haus werfen und dafür sorgen, dass du es nie wieder betrittst!“
„Das wäre nur ein Grund mehr für mich, in der Werft zu arbeiten,“ flüsterte Schirron, obwohl er noch blasser war als zuvor.
„Ach ja? Dann geh doch!“ brüllte Goschub. „Hol deine Sachen und geh!“
„Vater! Du kannst Schirron doch nicht einfach aus dem Haus werfen, nur weil er einen Beruf lernen will, der dir nicht gefällt!“
Bis jetzt war Tishanea wie erstarrt gesessen. Doch ihr Entsetzen darüber, dass Schirron aus seiner Familie fortgejagt werden sollte, hatte die Starre schlagartig gelöst.
Sofort richtete Goschubs ganze Wut sich auf sie: „Wer hat dich denn gefragt? Und wieso auf allen Wellen glaubst du, dass du mir sagen kannst, was ich tun kann und was ich nicht tun kann? Wofür hältst du dich? Glaubst du, dass mein Wort für dich nicht mehr gilt, nur weil du zwölf Jahre lang nicht unter meinem Dach gelebt hast? Im Gegenteil – gerade deshalb solltest du deinen Mund halten und dankbar dafür sein, dass du in meinem Haus wohnen darfst! Denn es ist mein Haus, und ich allein entscheide darüber, wer bleibt und wer geht!“
Tishanea fuhr hoch. Obwohl ihre Stimme nur noch gepresst hervorkam, schrie sie beinahe so laut wie ihr Vater: „Diese zwölf Jahre geben mir jedes Recht auf mein eigenes Wort! Wegen dieser zwölf Jahre weiß ich nämlich besser als jeder andere, wie grausam es ist, von seiner Familie getrennt zu werden – wie unerträglich es ist, nicht zu wissen, ob man seine Eltern jemals wiedersehen wird, und wie sie reagieren werden, falls man ihnen doch eines Tages wiederbegegnet! Wie ist es mit dir? Kannst du dir vorstellen, wie weh das alles tut? Wie–“
Goschubs abfälliger Gesichtsausdruck ließ Tishanea abbrechen. Natürlich wusste er, wie sehr es schmerzte, von seiner Familie verstoßen zu werden. Genau aus diesem Grund hatte er Schirron damit gedroht.
Kühler als zuvor, aber umso schärfer ergriff Goschub wieder das Wort: „Sei jetzt lieber still, Tochter. Sonst mache ich mir noch Gedanken darüber, ob du etwas mit Schirrons fischköpfigen Ideen zu tun haben könntest. Er hatte sie zwar schon früher, aber sie sind erst wieder aufgetaucht, nachdem ihr beide dauernd zusammengesteckt seid. Vielleicht fand Schirron sein Leben als Fischer nicht mehr gut genug, nachdem er von deinem abenteuerlichen Leben in Zweimündung erfahren hat. Ich kann keinen Unruhestifter unter meinem Dach brauchen – denk daran, bevor du deinen Mund aufmachst.“
Wie geschlagen ließ Tishanea sich auf ihren Stuhl fallen und heftete ihren tränenverschleierten Blick auf die Tischplatte. Schirrons Stimme schien aus weiter Entfernung zu kommen:
„Tisha hat überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun – und ihr Leben in Zweimündung noch weniger! Es war allein meine Entscheidung! Ich will dich weder ärgern noch mit meiner Familie brechen. Ich habe nur einen Wunsch, der größer ist als mit euch allen in diesem Haus zu leben: Schiffe zu bauen. Wenn ich mein Elternhaus verlassen muss, um mir diesen Wunsch zu erfüllen, dann werde ich es tun. Aber es täte mir Leid, wenn ich es tun müsste. Deshalb bitte ich dich, es dir noch einmal zu überlegen.“
Undurchdringliches Schweigen breitete sich aus. Mit angehaltenem Atem hob Tishanea den Kopf. Ihr Bruder und ihr Vater starrten einander an ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Auf Schirrons Miene stand fester Entschluss, während auf Goschubs Zügen gegensätzliche Impulse miteinander kämpften. Am Ende riss Goschub sich los, stampfte zur Stiege und brüllte:
„Ach, mach doch, was du willst!“
Nachdem ihr Vater im oberen Stock die Schlafzimmertür zugeschlagen hatte, ließ Tishanea ihren Kopf auf den Tisch sinken und verbarg das Gesicht in ihrer Armbeuge. Ihr Vater hielt sie für eine Unruhestifterin! Obwohl sie alles getan hatte, um die letzten zwölf Jahre vergessen zu machen! Wenn er so viel Unwasserhaftes in ihr sah, durfte sie nie darauf hoffen, dass er ihr die Wahrheit über das Haus des dreifachen Friedens verzeihen würde! Warum war sie nicht stärker gewesen? Wie hatte sie den Friedenslehrern erlauben können, ihr so viel von ihrer Haftigkeit zu nehmen?
Schirron legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Seine Finger zitterten leicht. „Warum hast du Vaters Zorn auf dich gezogen? Lass ihn das nächste Mal einfach toben. Er sagt viel, wenn er wütend ist. Aber er macht nur selten ernst damit. Wenn man ihn nicht noch mehr reizt, wird er bald wieder ruhig – zumindest ruhig genug, um wieder zu Verstand zu kommen.“
***
Die Stimmung im Haus blieb wochenlang gereizt. Goschub ließ keine Gelegenheit aus, Schirron mit sarkastischen Bemerkungen über den Schiffsbau zu bombardieren. Schirron nahm die Launen seines Vaters mit erstaunlicher Fassung hin und presste nur manchmal die Lippen aufeinander. Viel schwerer schien es ihm zu fallen, Rabess’ bekümmerte Miene zu ertragen. Ihren Versuch, ihn zur Aufgabe seiner Lehre zu überreden, wehrte er dennoch scharf ab:
„Was fändest du schlimmer?“ fragte er seine Mutter. „Dass Vater einige Wochen lang schlechte Laune hat, oder dass ich für den Rest meines Lebens unzufrieden bin?“
Читать дальше