Danach sprach Rabess fünf volle Tage kein Wort mit Schirron. Nicht einmal die sonst so gleichgültige Riesche blieb von den Spannungen in der Familie unberührt. Sie stolzierte nicht mit ungerührter, sondern mit eisiger Miene umher. Rabess verriet Tishanea, dass Fjurosch knapp davor gestanden war, eine Einladung zum Abendessen anzunehmen. Doch nach den jüngsten Ereignissen hatte er wieder einen Rückzieher gemacht. Tishanea war hin- und hergerissen. Sie bewunderte den Mut ihres Bruders und freute sich über die Begeisterung, mit der er ihr abends von seiner Arbeit in der Werft erzählte. Gleichzeitig vermisste sie Schirron auf See. Ihn allein hatte sie alles fragen können, ohne sofort das Gefühl zu bekommen, eine Schande für ihre Fischerfamilie zu sein. Außerdem litt Tishanea an Bord unter Goschubs ständigen Seitenhieben auf verblendete Schiffsbauer und ihre treuen Schwestern. Ganz nach Schirrons Beispiel versuchte sie, die Zähne zusammenzubeißen. Trotzdem geriet sie immer wieder in heftige Wortgefechte mit ihrem Vater. Nicht einmal die Erfahrung, dass er stets das letzte Wort behielt, und sie verletzt zurückblieb, vermochte ihr den Mund zu verschließen.
Beim ersten Abendessen, das nach langer Zeit in entspannter Wortlosigkeit verlief, atmete Tishanea auf. Keine einzige Stichelei wurde laut, und dem Schweigen fehlte die Eiseskälte, die sonst zwischen den Sticheleien geherrscht hatte. Offenbar gab es doch einen Funken Hoffnung auf ein normales Leben mit einem Schiffsbaulehrling in der Familie. Beinahe fröhlich half Tishanea dabei, den Tisch abzuräumen, als plötzlich die Haustür aufgerissen wurde. Ohne zu klopfen und ohne Gruß trat ein Wasserhafter mit energischem Schritt über die Schwelle. Er musste sich unter den Türstock ducken, und wenn seine Schultern noch eine Spur breiter gewesen wären, hätte er sich außerdem zur Seite wenden müssen. Er platzte mit der Wucht eines Vulkans herein, und die Lava loderte in seinen Augen. Schurac.
Nicht nur Tishanea stand wie gebannt vor Schock. Auch ihre Eltern und Geschwister starrten entgeistert zur Tür, während Schuracs flackernder Blick über sie hinweg glitt. Obwohl er Tishanea nur kurz fixierte, traf es sie wie ein Peitschenhieb. Nie hatte sie geglaubt, Schurac hier in diesem Haus sehen zu müssen. Wie hatte er sie nur gefunden? Goschub erholte sich am schnellsten. Mit größter Sorgfalt stellte er die Schüssel, die er in seiner Hand hielt, auf den Tisch zurück. Dann wandte er sich Schurac zu, ohne ihm näher zu kommen. Selbst aus einigen Fischlängen Entfernung musste er steil zu dem ungebetenen Gast aufsehen.
„Wen haben wir denn da,“ tönte Goschub spöttisch. „Wenn das nicht der großartigste Kämpfer ist, den Seestadt jemals großgezogen hat! Oder ist es doch der größte Abtrünnige in Seestadts langer Geschichte? Lass mich überlegen –“ Er strich sich in aufgesetzter Nachdenklichkeit über den Stoppelbart. „Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir bei unserem letzten Zusammentreffen verboten, dieses Haus jemals wieder zu betreten.“
Schurac betrachtete Goschub grimmig. „Ich habe das Verbot nicht vergessen.“ Sein Ton machte kein Hehl daraus, wie lächerlich er die Vorstellung fand, dass Goschub ein Hausverbot gegen ihn durchsetzen wollte. „Aber wenn du dich noch so gut an unser letztes Zusammentreffen erinnern kannst, weißt du sicher auch, warum ich dieses Verbot heute brechen muss.“
Er deutete mit dem Kopf auf Tishanea, die immer noch reglos stand. Der Schock wollte nicht von ihr weichen, und darunter lauerte bereits die altvertraute, würgende Angst. Dabei stand Schurac noch gute sieben Fischlängen entfernt.
„Es ist zu spät, Schurac!“ triumphierte Goschub. „Zwölf Jahre zu spät! Sie sollte euch gehören, aber sie ist euch entwischt – nach Zweimündung. Jetzt könnt ihr sie nicht mehr zu einem Zögling im Haus des dreifachen Friedens machen!“
Flüchtiges Befremden malte sich auf Schuracs Miene, gefolgt von Begreifen, tiefster Erbitterung und maßlosem Zorn. Unwillkürlich duckte Tishanea sich unter dem vernichtenden Blick, den der riesige Wasserhafte auf sie richtete. Ihre Familie brauchte keine weitere Erklärung, um zu verstehen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis das Beobachtete sich zu Gewissheit verdichtete. Rabess wandte sich abrupt zur Stiege und verließ die Wohnküche. Schirron schüttelte ungläubig den Kopf. Riesche zog fassungslos die Brauen hoch. Goschub wurde grau im Gesicht.
„Verlasst mein Haus. Alle beide. Auf der Stelle. Für immer.“
Er brüllte nicht. Er flüsterte beinahe. Sein eisiger Ton schnitt tiefer als alle seine Wutausbrüche zusammen – so tief, dass er sogar Tishaneas Schockstarre löste. Plötzlich fand Tishanea sich fähig, auf ihren Vater zuzulaufen. Sie wollte ihn anflehen, ihr die Lügen zu verzeihen, und sie vor Schurac zu beschützen. Doch gleichzeitig löste Schurac sich von seinem Posten an der Tür. Sofort nahm die würgende Angst zu und drohte Tishanea erneut zu bannen. Verzweifelt versuchte die Wasserhafte, sich dagegen zu wehren, und einen Haken zu schlagen – zwecklos. Zwei von Schuracs fließenden, raumgreifenden Schritten reichten, um ihr den Weg abzuschneiden. Im nächsten Augenblick stand er nur noch eine Grätenlänge entfernt. Ohne die leiseste Berührung schien er alle Kraft aus Tishanea herauszusaugen und sie stattdessen mit lähmendem Grauen auszufüllen. Sie schrie innerlich vor Hilflosigkeit und Demütigung. Wieso hatte er solche Macht über sie? Woher kam diese grenzenlose Angst? Viele Dreistädter waren stärker als sie, und sie fürchtete keinen von ihnen. Es konnte also nicht allein Schuracs immense Kraft sein, die sie zu einem zitternden Bündel Elend machte.
„Versuch erst gar nicht, mir zu entwischen,“ grollte Schurac auf sie herunter. „Es wird dir nicht gelingen. Gehen wir.“ Er gab die Bahn zur Tür auf eine Weise frei, die jeden anderen Weg blockierte.
In einem letzten Versuch, ihre unerklärliche Angst zu bezwingen, schloss Tishanea die Augen.
„Los, beweg dich!“ Schuracs Ton verriet, dass er knapp vor dem Ende aller Geduld stand. Nach einer kurzen Pause fuhr er noch schärfer fort: „Ich habe dich schon einmal aus diesem Haus geschleppt, und ich schwöre dir – wenn es notwendig ist, werde ich es wieder tun!“
Unter Tishaneas blinder Angst kämpfte sich eine bittere Einsicht an die Oberfläche. Schurac hatte sie vor zwölf Jahren aus ihrem Elternhaus geholt und auf den Mittleren Grund gebracht! Damals musste Goschub ihm verboten haben, sein Haus jemals wieder zu betreten! Deshalb hatte Schurac gewusst, wo er sie wahrscheinlich finden würde! Und deshalb schlug die Angst sie jedes Mal in Fesseln, wenn sie seine Nähe spürte! Schurac verkörperte allen Zwang in ihrem Leben. Er war der Grund dafür, dass sie im Haus des dreifachen Friedens aufgewachsen war statt bei ihrer Familie. Bevor diese Erkenntnis sich fest verankern konnte, wurde Tishanea von einer kräftigen Hand im Nacken gepackt. Neuer Zwang brach über sie herein – der Zwang, sich vorwärts zu bewegen. Für die Dauer eines Lidschlags versuchte Tishanea noch, ihre Fersen in den Holzboden zu stemmen. Dann schwand der letzte Funke ihres Widerstandsgeists. Sie hatte dem riesigen Wasserhaften heute kaum mehr entgegenzusetzen als vor zwölf Jahren. Er würde sie wirklich wie einen Sack voller Seetang aus dem Haus schleppen, wenn sie nicht selbst ging. Allein konnte sie nichts gegen Schurac ausrichten, und von ihren Eltern durfte sie offenbar keine Hilfe erwarten. Sie akzeptierten einen Zögling aus dem Haus des dreifachen Friedens nicht mehr als Tochter – vielleicht nicht einmal als Wasserhafte. Wie in Trance ließ Tishanea sich von Schurac abführen. Er hielt nur noch kurz an der Tür inne, um einen der Fellumhänge vom Haken zu reißen. Danach hatte Tishanea alle Mühe, mit Schurac Schritt zu halten und nicht von ihm über die Floßpfade geschleift zu werden.
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