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Tishaneas Überzeugung, dass Schurac sie ins Haus des dreifachen Friedens bringen würde, fand ein jähes Ende. Völlig unvermittelt blieb er neben einem Seestädter Steinhaus stehen und begann, in seiner Gürteltasche zu kramen. Im fahlen Licht, das aus einem Fenster auf der anderen Straßenseite fiel, konnte Tishanea ein Wandrelief erkennen. Es zeigte zwei Seelöwen, die sich auf einem Felsen sonnten. Dies musste also das Haus in der Krakengasse sein. Hier hätte sie in jeder zweiten Woche Bericht über ihre Nachforschungen in Seestadt erstatten sollen. Wie viele dieser Termine waren verstrichen? Sie hatte irgendwann aufgehört, zu zählen. Mit nur einer Hand fiel es Schurac schwer, die alte, verzogene Tür aufzusperren und zu öffnen. Trotzdem ließ er Tishaneas Nacken nicht los, bis er sie in den oberen Stock geführt hatte. Dort schubste er Tishanea unsanft in den Raum, warf die Tür zu, riss sich seinen Umhang von den Schultern und schleuderte ihn gemeinsam mit dem anderen, den er aus Goschubs Haus fortgetragen hatte, auf einen Sessel. Hastig nützte Tishanea die Gelegenheit, mehr Raum zwischen sich und den riesigen Wasserhaften zu bringen. Sie kam nicht weit. Das Licht der Tranlampe, das Schurac aufflammen ließ, enthüllte ein außerordentlich kleines Zimmer. Unter normalen Umständen hätte dieser Raum niemals ausgereicht, um den beklemmenden Eindruck von Schuracs Gegenwart zu mildern. Aber jetzt war es Erleichterung genug, Schuracs Griff entkommen zu sein. Selbst an die größte Angst konnte man sich gewöhnen, wenn sie lange genug anhielt. Tishanea spürte, wie neben der Angst wieder Platz für neue Gefühle entstand, und wie er sofort von Hass ausgefüllt würde. Nie war ihr Hass auf Schurac größer gewesen als in diesem Augenblick. Er hatte sie aus ihrer Familie gerissen! Heute – und vor zwölf Jahren! Feindselig verfolgte Tishanea, wie Schurac sich langsam zu ihr umwandte. Ohne es zu wissen, nahm sie die Grundhaltung der wasserhaften Kampftechnik ein. Erst jetzt brach Schuracs ganzer Zorn über ihren Ungehorsam und über ihre Lügen auf seiner Miene hervor. Tishanea begriff, dass es sogar für ihn ein Risiko gewesen sein musste, sie aus einem Haus voller Wasserhafter zu holen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Gebot der Wachsamkeit seine Wut gezügelt. Nun brodelte sie dicht unter der Oberfläche. Es war deutlich zu sehen, dass Schurac mit aller Kraft um Beherrschung rang. Plötzlich empfand Tishanea den glühenden Wunsch, diese dünne Oberfläche zu durchstoßen. Sie wollte diese machtvolle Wut entfesseln und sie über sich hereinbrechen lassen. Egal, wozu Schurac sich dann hinreißen ließe – es würde sie nicht mehr verletzen als alles, was er ihr bisher angetan hatte. Sollte er sie doch totschlagen! Dann wäre sie allen Schmerz los, und er würde in einer Zelle im Haus der dreifachen Gerechtigkeit verrotten! Tishanea spannte ihren Körper und schnellte wie ein Raubfisch auf Schurac los. Eine Stichflamme loderte in seinen Augen auf und hieß die Herausforderung zum Kampf rückhaltlos willkommen. Doch noch im Sprung sah Tishanea, wie ein Ruck durch Schuracs Körper ging. Sie wusste sofort, dass der Moment vorüber war. Was immer sie jetzt täte, Schurac würde es von sich abprallen lassen. Ihr Angriff hatte ihn nicht um seine Beherrschung gebracht, sondern sie ihm wiedergegeben. Seine Wut war zweifellos ungebrochen, aber von jener Strenge in Zaum geschlagen, die Tishanea allzu gut kannte. Schurac würde sie auch diesmal nicht aus seinen Klauen lassen – nicht einmal auf dem schmerzhaftesten Weg, den sie sich vorstellen konnte. Nur aus Verzweiflung brach Tishanea ihren Angriff nicht ab. Ihre linke Ferse und ihre rechte Faust rammten nacheinander Schuracs Magengegend. Der Wasserhafte ließ die Attacke ohne Gegenwehr über sich ergehen. Im nächsten Augenblick war er aus Tishaneas Gesichtsfeld verschwunden. Von der Seite her schloss eine seiner riesigen Hände sich um ihre beiden Handgelenke, während sein Fuß ihre Füße auf dem Boden fixierte. Als Schurac Tishanea auch noch einen leichten Stoß versetzte, hing sie hilflos in seinem Griff. Ihre Hiebe schien er überhaupt nicht gefühlt zu haben. Die schweren Atemzüge konnten genauso gut von seinem Zorn kommen. Schurac beugte sich tief zu Tishanea hinunter. Sein Gesicht war nur mehr wenige Grätenlängen von ihrem entfernt. Seine Augen flackerten so heftig, dass sie in mehreren Farben zu schillern schienen.
„Die letzten Wochen – ach was, Monate! – haben dich kein bisschen verändert! Du verhältst dich, als würde dir das größte Unrecht angetan. Dabei warst du es, die alle Anweisungen missachtet und gebrochen hat!“
Tishanea biss die Zähne zusammen. Ihre Schultern und Arme begannen zu schmerzen, weil sie krampfhaft versuchte, sich zumindest halbwegs aufrecht zu halten. Endlich gab Schurac ihre Füße frei, zog Tishanea auf die Beine und richtete sich selbst wieder auf. Nur ihre Handgelenke saßen immer noch im Schraubstock seiner Faust fest.
„Sag mir, welchen Teil meiner Anweisungen du nicht verstanden hast!“ herrschte Schurac sie an. „Habe ich dir nicht verboten, mit deiner Familie Kontakt aufzunehmen? Hättest du nicht Nachforschungen darüber anstellen sollen, ob Seestädter hinter dem Sprengstoffanschlag auf dem Mittleren Grund stecken? Und hättest du mir nicht regelmäßig hier in diesem Haus darüber berichten sollen, was du herausfinden konntest?“
Tishanea legte nicht einmal den Kopf in den Nacken, um Schurac in die Augen zu sehen. Er wusste, dass sie seine Anweisungen verstanden hatte. Und wenn er wirklich nicht kapierte, warum sie trotzdem keinem einzigen seiner Befehle gefolgt war, würde sie es ihm niemals begreiflich machen können. Auf keinen Fall würde sie sich für ihren Versuch rechtfertigen, das zurückzuholen, was er ihr vor zwölf Jahren genommen hatte.
„Glaubst du, dein Auftrag ist ein Spiel?“ fuhr Schurac eindringlich fort. „Es geht nicht allein darum, diejenigen zu bestrafen, die diesen Anschlag verübten! Es geht außerdem darum, zu verhindern, dass sie nochmals zuschlagen! Es geht hier um Lebensgefahr! Wenn du deinen Auftrag ignorierst, verurteilst du vielleicht viele Dreistädter zum Tod! Was im Namen der dreifachen Gerechtigkeit kann wichtiger sein, als Leben zu retten?“
Gegen ihren Willen riss eine Woge der Empörung Tishaneas Kopf in die Höhe und öffnete ihr den Mund: „Was kümmern mich die Leben anderer Dreistädter, wenn ich mein eigenes verloren habe!“
Neue Erbitterung flammte in Schuracs Augen auf. Er ließ Tishanea los und stemmte die Hände in die Hüften. Nun wirkte seine riesige Gestalt noch massiver. Unwillkürlich taumelte Tishanea einige Schritte zurück.
„Du glaubst, du hast dein Leben verloren?“ donnerte Schurac. „Erst das Haus des dreifachen Friedens hat dir ein Leben gegeben – ein wahrhaftiges, gutes Leben! Das Haus des dreifachen Friedens bietet dir mehr Einsicht und Wissen, als ein Wasserhafter in Seestadt jemals erlangen könnte! Es gibt dir eine Lebensaufgabe – die Möglichkeit, ein nützliches Leben zu führen, zum Wohl aller Dreistädter! Wenn du endlich deine Augen aufmachen würdest, würdest du sehen, was dieses Haus bedeutet – was es für dich und für alle Dreistädter bedeuten könnte! Aber du läufst lieber mit geschlossenen Augen durchs Leben und lehnst alles ab, wofür dieses Haus steht!“
Wutentbrannt warf Tishanea ihre Zöpfe aus dem Gesicht. „Ich spucke auf alles, was das Haus des dreifachen Friedens bedeutet, solange es mir nicht die Wahl über mein eigenes Leben lässt!“
„Du willst eine Wahl haben? Um wirklich eine Wahl zu haben, musst du erst sehen, welche Wahlmöglichkeiten es gibt! Ein Leben in Seestadt allein lässt dir nicht die geringste Wahl! Schau dir doch an, was du in Seestadt getan hast, während du sicher warst, dass du deine eigene Wahl triffst – du hast dich versteckt, und du hast Lügen erzählt! Ist das wirklich die Wahl, die du treffen willst?“
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