Er machte sich auf den Weg zurück in den Behandlungsraum in dem er den kleinen Findling gelassen hatte. Friedlich lag der in dem kleinen Hundekorb in den er ihn hineingelegt hatte. Man sah ihm an, dass er dringend aufgepäppelt werden musste. Alexander gab ihm noch eine Vitaminspritze. Doch davon bekam der Hund so gut wie nichts mit. Erschöpft schlief er weiter und reagierte auf den kleinen Piecks nur mit einem kurzen, Geräusch.
Die Eingangstür war immer noch nicht verschlossen. Deswegen machte sich der Tierarzt auf den Weg dorthin. Kurz schaute er hinaus und blickte sich um. Von Sarah Ludwig war natürlich nichts mehr zu sehen. Wieder schüttelte er den Kopf über sich selbst. Er hatte sich doch selbst geschworen sich nicht mehr von einer Frau derart beeindrucken zu lassen. Warum also sah er sich hier nach ihr um? Hoffte er etwa sie hier noch irgendwo zu erblicken? Wahrscheinlich würde er sie ohnehin nie mehr zu Gesicht bekommen, und eigentlich war das auch ganz gut so. Warum also war er so enttäuscht darüber? Sie hatte den Hund hier nur aus reiner Gutmütigkeit hergebracht. Sicher. Sie hatte ihn gebeten, dass er sie anrufen sollte. Er lächelte bei dem Gedanken daran wie sie das getan hatte und zog die Visitenkarte aus seiner Hosentasche, um noch einmal darauf zu schauen. Dann steckte er sie eilig weg, zog den Schlüssel hervor und steckte ihn in das Schloss der Eingangstür um abzuschließen. Pia-Maria Kastner, seine Praxisgehilfin hätte das eigentlich tun sollen. Morgen musste er ein ernstes Wörtchen mit ihr reden dachte er und musste dabei über sich selbst lächeln. Denn das würde er doch nicht übers Herz bringen. Sie war schon gut in die Jahre gekommen und eigentlich hätte sie es schon längst verdient ihre Rente zu genießen. Aber erstens wollte sie nicht ganz zum alten Eisen gehören und hatte Angst alleine zu Hause zu versauern wenn sie nicht mehr arbeiten ging, und zweitens, wenn sie das auch nicht so offen aussprach, hatte Alexander die Vermutung, dass ihre Rente ziemlich schmal ausfiel und sie damit wohl kaum über die Runden zu kommen schien. Also verbrachte sie ein paar Stunden die Woche noch in der Praxis in der sie schon bei Dr. Schubert viele Jahre gearbeitet hatte. Alexander hatte sie samt Praxis mitübernommen. Die gute Seele des Hauses sozusagen. Er hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Sie hatte so etwas Mütterliches an sich und er hatte nie das Gefühl ihr Chef zu sein sondern ganz im Gegenteil kam er sich in ihrer Gegenwart oft vor wie ein Junge der bei ihr gelegentlich einen Ratschlag einholte. Nur das mit dem Praxis abschließen, das klappte ganz offensichtlich nicht mehr ganz so gut. Sie hatte es wohl vergessen und er würde es sich ganz einfach zur Gewohnheit machen müssen die Tür zu kontrollieren wenn sie gegangen war, ohne darüber viele Worte zu verlieren.
Er ging zurück zu seinem letzten Patienten des heutigen Tages und schaute auf ihn herab. Er war wirklich ein süßer kleiner Mischling und tat ihm furchtbar leid. Was wenn sich kein Eigentümer für ihn fand? Vielleicht hatte er ja Glück und es würde sich ein alter, oder neuer Besitzer für das struppige Fellknäuel finden. Fürs Erste hob er den Korb und trug ihn mit zu sich nach oben in seine privaten Räume. Alexander hatte es sich hier oben gemütlich eingerichtet. Sein eigenes Reich, in das bisher niemand eingedrungen war. Praktischerweise gab es eine Treppe die direkt von der Praxis in seine Privatwohnung führte. Nur eine Zwischentür verhinderte, dass ungebetene Gäste sich hier Zutritt verschaffen konnten. Hoffentlich hatte er hier nun endlich seine Ruhe vor den Schatten der Vergangenheit. Er war es leid ständig davor zu fliehen und wollte nun endlich sesshaft werden. Und hier würde es ihm ganz bestimmt gelingen. Das hatte er fest vor. Er stellte den Korb mit seinem lebendigen Inhalt im Wohnzimmer ab und ging in die Küche um sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen. Viel Hunger hatte er nicht also begnügte er sich mit einem Sandwich und einem Glas Wein zum Abendessen. Früher hatte er gerne gelegentlich etwas gekocht. Aber für sich alleine zu kochen machte ihm keinen Spaß. Also aß er ab und zu auswärts und ansonsten machte er sich nur kalte Snacks. So wie heute. Pia-Maria schimpfte ihn deswegen gespielt des Öfteren mit erhobenem Finger. Dabei lächelte sie und zog meist einen kleinen Topf oder eine Schüssel aus ihrer alten Stofftasche hervor die sie stets mit sich trug. Sie nannte es ihre „Reste“ von zu Hause. Doch Alexander hatte den dringenden Verdacht, dass sie absichtlich zu große Mengen kochte um ihn zu füttern. So war sie eben. Eine gute Seele.
Außer ihr arbeitete noch eine junge Frau als Sprechstundenhilfe seiner Praxis. Diana Meyer. Sie hatte erst vor einem Jahr ihre Lehrzeit bei seinem Vorgänger beendet und da sie gute Arbeit geleistet hatte wurde sie danach als Vollzeitkraft übernommen. Auch Alexander war mit ihr sehr zufrieden. Für eine Frau ihres Alters war sie ausgesprochen ernsthaft und hatte für ihre Arbeit die nötige Disziplin. Viele andere junge Frauen ihres Alters waren noch mit anderen Dingen beschäftigt. Disco, Partys feiern und Männer kennenlernen. Aber Diana hatte das wohl alles schon hinter sich oder sie sprach nicht allzu viel darüber. Alexander wusste lediglich, dass sie in einer festen Beziehung mit einem Studenten lebte und mit ihm eine Wohnung teilte. Möglicherweise war Pia-Maria da besser informiert. Aber das war Alexander ganz recht so. Er hatte seine eigenen Sorgen und wüsste nicht mit wem er darüber reden könnte oder wollte. Pia-Maria hätte mit Sicherheit auch ein offenes Ohr für seine Probleme. Doch die schienen ihm viel zu persönlich um sie einer, eigentlich doch fremden, Person anzuvertrauen. Es war besser wenn niemand hier von seiner Vergangenheit wusste und so sollte es auch bleiben.
So in Gedanken versunken richtete er sich zwei Sandwiches in der Küche, während sein kleiner Patient friedlich vor dem Ofen in seinem Wohnzimmer vor sich hin schlummerte. Ab und zu konnte er ein kleines Wimmern aus seiner Richtung vernehmen. Offensichtlich träumte der Kleine. Wenn er aufwachen würde hätte er sicher ziemlichen Hunger. Da war er sich sicher. Glücklicherweise hatte er ein paar Proben Hunde- und Katzenfutter von einem Tiernahrungshersteller im Haus. Er ging noch einmal kurz nach unten in die Praxis und holte sich ein paar Dosen davon in die Wohnung. Oben angekommen nahm er sich den Teller mit seinem Abendbrot und machte es sich auf der großen Wohnlandschaft gemütlich. Er zog sich die Schuhe aus und legte seine Füße auf den Tisch. Während er mit der einen Hand seinen Teller auf dem Schoß balancierte schaltete er mit der Fernbedienung in der anderen das Fernsehgerät ein und zappte sich durch die Kanäle. Bei einem Nachrichtensender angekommen legte er die Bedienung aus der Hand und widmete sich ganz seinem mageren Essen. Immer wieder sah er dabei nach dem Hund in seinem Körbchen. Noch schlief er friedlich, aber mit Sicherheit würde der Hunger den kleinen Kerl bald wecken. So abgemagert hatte er schon lange kein Tier mehr gesehen. Er fragte sich was ihm wohl zugestoßen sein mochte. Nach allen möglichen politischen Themen berichtete der Nachrichtensprecher mittlerweile über einen Großbrand in der Nähe von Hamburg. Als ein Filmbericht dazu zu sehen war schaltete Alexander schnell in einen anderen Kanal. Seit damals konnte er sich solche Bilder nicht mehr ansehen. Er legte seinen Teller zur Seite und starrte in das Feuer, welches in seinem Schweden-Ofen allmählich immer kleiner wurde, bis nur noch die rote Glut übrig war. Er stand auf und streichelte im Vorbeigehen dem Hund über sein Köpfchen. Dann nahm er zwei große Holzscheite aus dem Korb neben dem Ofen und legte sie auf die Glut. Ein Wunder, dass er dazu überhaupt fähig war. Sofort begannen sich kleine Feuerzungen unter dem Holz zu bilden und man konnte beobachten wie schnell das Feuer von dem neuen Holz Besitz ergriff. Schnell entstand eine wohlige Wärme die durch das Glasfenster des Ofens hindurch drang. Faszinierend und angsteinflößend zugleich, empfand Alexander jedes Mal dieses Schauspiel. Wie hypnotisiert starrte er auf das immer mächtiger werdende Feuer als ihn ein Laut von der Seite aus seiner Starre auf schrecken lies. Der Hund war, wie er es sich gedacht hatte, aufgewacht und blickte ihn nun erwartungsvoll aus großen braunen Augen an. Er schien kein bisschen Angst zu haben. Schließlich war er hier in einer fremden Umgebung. Aber das schien ihn nicht zu stören. Ganz offensichtlich fühlte er sich wohl „Na mein Kleiner. Du hast doch bestimmt mächtig Hunger..... so wie du aussiehst!“ Alexander stand auf und ging in die Küche. Dort nahm er eine alte Schüssel aus dem Schrank. Die hatte er eigentlich schon längst fortwerfen wollen. Aber irgendwie war sie doch jedes Mal wieder in der Spülmaschine gelandet und kam zurück in den Schrank. Nächstes Mal fliegst du in den Müll hatte Alexander sich immer wieder dabei gedacht und es doch gelassen. Nun erfüllte das gute alte Stück wenigstens noch einen Sinn. Er öffnete eine der Futterdosen und füllte einen Teil des erstaunlich gut riechenden Hundefutters hinein. Danach nahm er die Schüssel mit in das Wohnzimmer und ging damit zum Hundekörbchen. Der Kleine war zu schwach um aufzustehen, also hob er ihm die Schüssel vor die Nase und sprach auf ihn ein. Der schnupperte kurz und sein kleines Schwänzchen begann sich leicht hin- und her zu bewegen. Erst zaghaft, dann immer schneller schlang der Hund das Futter in sich hinein und in Kürze war die Schüssel leer. „Das war´s fürs Erste. Zuviel auf einmal tut deinem kleinen Bäuchlein nicht gut.“ Alexander ging zurück in die Küche, säuberte die Schüssel und tat etwas frisches Wasser hinein. Damit ging er zurück und lies den Hund trinken. Einen dankbaren Hundeblick und einen kurzen Seufzer später kugelte der Hund sich zusammen und schlief auch schon wieder ein. Mit einem Lächeln sah Alexander auf ihn herunter und fragte sich wie der Kleine wohl heißen mochte. Allerdings war es sehr unwahrscheinlich das jemals herauszufinden. „Wir müssen dir wohl einen neuen Namen geben“, sagte er mehr zu sich selbst während er sich zu ihm beugte und dem schlafenden Etwas das struppige Fell streichelte. „Und ein Bad hast du auch dringend nötig.“
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