Jens van der Kreet
ROMAN
Sex und Geld regiert die Welt.
Volksmund
DIE ERSTE LEGISLATURPERIODE
11.03.1999 - 11.08.1999
Es war Christinas Idee gewesen, ins gemeindeeigene Hallenbad zu gehen. Jetzt saßen die beiden Mädchen gemeinsam nebeneinander am Beckenrand an der Längsgeraden des großen Schwimmerbeckens und quatschten über Gott und die Welt, während aus den Lautsprechern an den Seitenwänden leise Radiomusik lief, “Frozen” von Madonna.
Sie waren beide sechzehn, doch jemand, der sie nicht kannte, hätte sie nicht für gleichaltrig gehalten, dachte Nina, während sie ihre beste Freundin in ihrem vorteilhaften roten Bikini von der Seite betrachtete. Auf der einen Seite Christina Appeldorn, die Schönheit in der Blüte ihres Lebens, mit wallendem blonden Haar, ebenmäßigem Gesicht, hohen Wangenknochen, prallen Brüsten, einer Neunzig-Sechzig-NeunzigFigur. Auf der anderen Seite sie selbst, klein, zierlich, unscheinbar, mit kaum ausgebildetem Busen, aber dafür viel zu dünnen Beinchen, die sie zu häufig rasieren musste. Höchstens das Piercing in ihrem Bauchnabel verriet ihre Individualität, fand sie. Sie hätte sich selbst belügen müssen, wenn sie nicht zugegeben hätte, dass sie neidisch auf ihre Freundin war.
„Hast du den Typen da hinten gesehen?“ fragte Christina. Christina spielte auf einen etwa ein Meter neunzig großen Hünen an, der gerade vom Startblock gesprungen war, „hat der Muskeln.“
Nina, ganz in Gedanken, blickte zu ihr herüber.
„Lass uns doch wieder ins Wasser gehen. Mir ist langsam kalt!“ Nina hatte bereits überall Gänsehaut und begann zu bibbern.
„Weichei! Kein Wunder, dass du keinen Typen abkriegst!“
„Na warte!“
Nina war ins Wasser gesprungen, und zog Christina am Bein, um sie runter zu ziehen.
„Du hast nur Angst vor dem kalten Wasser!“, rief sie, und sie zerrte weiter an Christinas Bein, während diese sich verzweifelt am Beckenrand zu halten versuchte.
Plötzlich hielt Nina inne. Christina blickte sie überrascht an.
„Was ist los?“
„Du hast schon wieder blaue Flecken am Oberschenkel.“
„Und? Haben Sie ein Problem damit, Frau Doktor?“
„Hast du wieder Streit gehabt mit deinem Vater? Oder hast du die Flecken von Tim? Schlägt er dich?“
Christina lachte auf.
„Spinnst du jetzt, oder was?“
Nina sah ihr mit ernstem Blick in die Augen. Dabei fiel ihr ein weiteres Mal auf, dass man einem Menschen nie in beide Augen gleichzeitig sehen kann, sondern man blickt abwechselnd in jeweils eines davon.
„Ich meine es ernst – wirklich.“
„Das ist wieder mal typisch für dich. Die ernste Nina. Aber, lass dir das gesagt sein: Du siehst Gespenster! Ich meine, es ist lieb von dir, dass…“
Nina hielt ihrem abwehrenden Blick stand.
„Dann kannst du mir sicher erklären, woher deine blauen Flecken kommen. Bist du … die Treppe runter gefallen, oder was?“
Christina schüttelte den Kopf und warf ihr einen mitleidigen Blick zu, mit dem man den Insassen einer psychiatrischen Anstalt versieht, der einem glaubhaft versichert, vom Nachbarn vergiftet worden zu sein.
„Weißt du, Nina, daran sieht man mal wieder, woran es hapert bei dir. Die Flecken habe ich vom Sse-ex mit Tim. Hättest du selber Sse-ex, dann wüsstest du, dass es dabei etwas härter zur Sache geht. Du als Jungfrau kannst darüber natürlich nichts wissen.“
Diese Retourkutsche saß. Nina blickte pikiert zur Seite, schwieg, schmollte.
Christina ließ sich vom Beckenrand ins Wasser herabgleiten und legte ihrer Freundin fürsorglich den rechten Arm um die Schulter.
„Tut mir Leid. Ich wollte nicht deine Gefühle verletzen.“
Sie blickten sich wieder gegenseitig in die Augen. Christina lächelte.
„Freunde?“
Nach einer weiteren Minute, die sie Christina zappeln ließ, erwiderte sie deren Lächeln.
„Freunde.“
„Vergessen wir die Sache, und schwimmen eine Runde um die Wette?“
„Okay.“
„Wer als letzte ans Ziel kommt, muss das Vereinsheim putzen.“
„Dann hol schon mal den Schrubber“, erwiderte Nina, und schwamm in Richtung der Startblöcke. Christina schloss sich an.
Sie beschlossen ihren Nachmittag im Schwimmbad mit einem Besuch der Sonnenterrasse, wo Nina, die das Wettschwimmen siegreich für sich entschieden hatte, beim Anblick der von der Sonne unvorteilhaft angestrahlten Oberschenkelprellungen ihrer Freundin abermals ein mulmiges Gefühl beschlich.
Was soll’s, dachte sie, es ist ihr Leben.
Martin Wolf saß am Schreibtisch und studierte Personalakten, während auf dem PC die Website von Spiegel Online ihre knalligen Schlagzeilen in die Welt hinausblies und ihn auf dem Laufenden hielt. Er nutzte selten den Computer in seinem Büro; er gebrauchte ihn nur, wenn in der Welt etwas Wichtiges geschehen war. Heute war ein solcher Tag. Es war der erste sonnige Tag des Jahres nach diesem langen Winter, doch die Nachrichten dieses Tages standen ganz im Gegensatz zu den meteorologischen Frohbotschaften.
Es war Zeit zu handeln.
Es klopfte an der Tür.
Martin blickte auf seine goldene Armbanduhr.
17 Uhr.
„Herein!“, bellte Martin Wolf.
Christian Klein, der Fraktionsgeschäftsführer der Sozialdemokratischen Partei im Gemeinderat von Altweiler und in Personalunion Gemeindeverbandsvorsitzender der örtlichen Parteigliederung, betrat das Büro des Bürgermeisters. Klein, der im Hauptberuf als Referent im Saarbrücker Bildungsministerium an der Schnittstelle zur „großen“ Politik tätig war, trug einen schwarzen Dreireiher, Marke „Hugo Boss“, ein blaues Hemd und eine dunkle Krawatte.
„Du wolltest mich sehen. Was gibt‘s?“
Er sprach wie immer bestes Hochdeutsch.
Warum kann dieser Schnösel nicht einfach wie normale Menschen reden?
„Was wird es wohl geben? Warum glaubst du, dass ich dich herbestellt habe, um dir deine kostbare, vom Steuerzahler bezahlte Zeit zu stehlen?“
„Ich weiß es nicht, Martin, mach es nicht so spannend, es ist spät.“
Martin lachte.
„Die aktuelle politische Entwicklung zwingt uns, bestimmte Dinge, die seit Langem liegen geblieben sind, endlich in die Hand zu nehmen, um uns auf den Wahltermin im Juni besser vorzubereiten.“
Der Bürgermeister wies Klein an, Platz zu nehmen und bat seine Sekretärin Patricia darum, ihnen beiden Kaffee zu machen.
„Du weißt, was sich heute bundespolitisch ereignet hat?“, sagte Martin.
Die beiden Männer nahmen am Konferenztisch in der Mitte des Raumes Platz.
„Oskar Lafontaine ist zurückgetreten. Na und?“ antwortete Klein.
„Was bedeutet das für uns?“
Klein dachte lange nach. Soweit hatte er sich mit dem Thema noch gar nicht beschäftigt. Als Sozialdemokrat befand er sich an diesem Tage sozusagen in einem Schockzustand.
„Dass wir die Landtagswahl verlieren“, sagte er und sah dem Bürgermeister konzentriert in die Augen.
Martin stöhnte.
„Ich habe eben davon gesprochen. Welchen Termin haben wir Mitte Juni?“, fragte er seinen Fraktionsgeschäftsführer.
Klein schnippte mit den Fingern.
„Die Kommunalwahl. Aber warum sollte Oskars Rücktritt unsere Chancen bei der Kommunalwahl schmälern? Er war Bundesfinanzminister. Ich meine, was haben wir schon mit der Bundespolitik zu tun?“
„Weil unsere Wähler frustriert sind und nicht mehr wählen gehen. Die bleiben zuhause, und ich hab dann eine Mehrheit gegen mich, die mich sabotiert. Ich werde nichts mehr durchbringen können und bei der nächsten Bürgermeisterwahl wird man mich abwählen. So ist das! So einfach ist das!“
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