Nachdem Ailin sich verabschiedet hatte, setzte er sich zu seinen Töchtern und hörte sich an, was sie auf dem Herzen hatten. Meistens kam spontan nicht viel. Sie hatten Hunger, wollten mit ihm in die Küche, das Abendessen richten und nebenher über Freunde, Streit, Ausflüge, Musik, Bücher und Fernsehen reden. Das Thema Schule hoben sie für später auf. Unter der Woche kochten sie selten. Sie aßen Vollkornbrot mit Butter, Käse, Tomaten, Gurken und Oliven, und tranken dazu Früchtetee. Zum Nachtisch gab es Obst: Äpfel und Bananen und dazu Kirschen im Frühsommer, Trauben im Herbst und Mandarinen im Winter.
Wenn es nicht schüttete oder stürmte, machten sie nach dem Essen einen Spaziergang in den Park oder bummelten durch die Stadt. Heute zeigte sich der Frühling mit Sonne und milden Temperaturen von seiner schönsten Seite und weckte ihre Lust, Federball zu spielen. Mit Sportschuhen und einem Rucksack mit Schlägern und Federbällen und drei Flaschen Apfelschorle zogen sie zum Stadtgarten, wo es außer einem Sandplatz und Spielgeräten für Kleinkinder auch zwei Badminton-Felder mit Netz und Begrenzungslinien gab. Als sie dort ankamen, waren beide Felder besetzt. Das hieß warten, bis eines frei wurde, und sich bis dahin neben dem Platz warm spielen.
Schon bald konnten sie auf ein Feld wechseln. Zuerst spielte Marion gegen Conny. Er sah ihnen gerne zu, bewunderte Marion, die hart und präzise den Federball über das Netz schickte, und staunte über Conny, wie sie immer wieder listig den Ball zurück schaufelte. Dann musste er ran, zuerst gegen Marion und zum Schluss gegen Conny. Sie verlangtem ihm alles ab und freuten sich, wenn er einen Ball nicht erwischte.
Auf dem Heimweg, der heute, wie so oft, über die italienische Eisdiele am Marktplatz verlief, fragte er sie nach den Hausaufgaben und den anstehenden Klassenarbeiten. Noch konnte er ihnen in fast allen Fächern helfen oder wenigstens zusammen mit ihnen bei Google nach einer Lösung suchen.
In seinem Zimmer hatte er einen Computer mit Internetanschluss, den er hauptsächlich fürs Geschäft nutzte, wenn er nachts Emails an ausländische Repräsentanten von Li-Filter schickte und Informationen über Kunden und Konkurrenten suchte. Aus Furcht vor Viren wollte er nicht, dass Marion und Conny ohne ihn an diesen Computer gingen.
Er hatte den Mädchen einen Laptop gekauft, damit sie lernen, mit Word und Excel umzugehen. Den Internetanschluss hatte er ihnen bislang verweigert, weil er nicht wollte, dass sie auf pornografischen Seiten landeten. Er wusste, was sie zu sehen bekommen würden, wenn sie bei Google das Wort ficken eingaben. Das war wirklich nichts für Mädchenaugen. „Kann ich sie überhaupt davor schützen?“, fragte er sich. „Wie lange wird es dauern, bis sie solche Bilder bei einer Freundin oder einem Freund zu sehen bekommen?“ Dieser Gedanke gefiel ihm nicht.
Oma Berta unterstützte ihn, als er mit seinen Töchtern über Sex sprach. Für jede hatte er ein Aufklärungsbuch gekauft, so konnte er sich auf das, was ihm wichtig erschien, beschränken: Wenn es auch viele schmutzige Worte für die Geschlechtsorgane und Sex gebe, sagte er, sei Sex nicht von vornherein schmutzig, im Gegenteil, Sex sei wunderschön, wenn zwei Menschen, die sich liebten, das freiwillig miteinander machten. Ohne Liebe sollte man auf Sex verzichten. (Bei diesen Worten kam ihm der Pfarrer, der Wasser predigte und Wein trank, in den Sinn, denn um seine Geilheit zu bändigen, hatte er in den letzten drei Jahren oft Sex ohne Liebe praktiziert.)
Man müsse auch nicht möglichst früh mit Sex beginnen, denn Liebe sei oft von Kummer begleitet, den man mit zwanzig besser verkrafte als mit fünfzehn. Und sie sollten sich nicht von anderen Jugendlichen, die mit ihren sexuellen Erfahrungen prahlten, unter Druck setzen lassen; meistens sei an der Prahlerei nichts dran.
Danach ging er auf Kondome ein zum Schutz gegen eine ungewollte Schwangerschaft und eine Infektion mit Viren wie dem HIV, das AIDS auslöste. Johann zeigte ihnen Bilder von AIDS-Patienten: Ausgemergelte Menschen, die wie Mumien aussahen, weil sie durch andauernden Durchfall nur noch aus Haut und Knochen bestanden, Menschen mit Kolonien von Hefepilzen in Mund und Rachen, und Menschen, deren Haut bedeckt war mit Kaposi-Sarkomen, üblen Krebsgeschwüren. Marion und Conny waren schockiert.
„Kein Sex ohne Kondom!“, wiederholte er mehrmals.
Er habe Kondome in der untersten Schublade seiner Kommode. Wenn sie sich später einmal verlieben würden, könnten sie sich dort bedienen. Sie sollten aber mit den Kondomen keinen Unfug anstellen, warnte er. Vor einigen Jahren sei ein Schüler wegen sittlicher Verfehlungen vom Johannes-Kepler-Gymnasium geflogen, weil er Kondome, die er seinem Vater geklaut hatte, an seine Klassenkameraden verkaufte.
Marion und Conny kicherten. Diese Geschäftsidee schien ihnen zu gefallen.
Es habe nicht lange gedauert, bis ein Kondom von den Eltern eines Schülers entdeckt und die Frage nach dem Woher gestellt worden sei. Gut, man hätte den Namen des Verkäufers nicht der Schulleitung nennen müssen, ein Gespräch mit dessen Eltern hätte seiner Meinung nach genügt.
Wenn sie Fragen hätten, sollten sie zu ihr kommen, sagte Berta, sie sei immer für sie da. Die liebe Oma besuchte sie regelmäßig samstagnachmittags und half einfühlsam die Mutter zu ersetzen. Und wenn Johann geschäftlich reisen musste, blieb sie über Nacht oder nahm - bei längeren Reisen - die Mädchen zu sich.
Berta war seine engste Vertraute. Er hatte ihr Vollmacht für sein privates Bankkonto gegeben und eine Scheckkarte, mit der sie Einkäufe für Marion und Conny bezahlen konnte. Wenn es galt Unterwäsche auszuwählen, war sie kompetenter, und beim Kleiderkauf geduldiger als er. Für den Fall, dass ihm ein Unglück zustoßen sollte, hatte er für sie in einem Ordner die wichtigen Dokumente zusammengestellt - seine Bankkonten, seine Lebensversicherung, den Vertrag über seinen Anteil von dreißig Prozent an Li-Filter, den Grundbucheintrag für die Wohnung, die Vereinbarung über die Auszahlung von Sophies Anteil an der Marien-Apotheke in einen Vermögenssparplan für Marion und Conny, sein Testament und die Adressen von seinem Steuerberater und seinem Rechtsanwalt.
Die gute Berta. Sie schien eine robuste Psyche zu haben. Ein paar Jahre vor dem Tod ihrer Tochter musste sie den Verlust von Herbert, ihrem Mann, verkraften. Herbert, der als Pharmareferent unter der Woche im Auto unterwegs war, suchte an den Wochenenden Erholung in den Bergen, wanderte im Sommer und im Herbst, zog mit Langlaufski im Winter los und machte Skitouren im Frühjahr, meistens zusammen mit Berta oder mit seinem Pharmakollegen Jürgen, selten allein. Er hielt sich für einen erfahrenen Bergwanderer, meinte, das Risiko gut einschätzen zu können, und wählte einfache Touren, wenn er alleine ging. Er mochte die Appenzeller Alpen, die Churfirsten, die an der Nordseite sanft anstiegen und nach Süden steil zum Walensee abfielen. Bei klarem Wetter hatte er oben einen spektakulären Blick nach Süden auf tausend Alpengipfel.
Seine letzte Tour führte ihn zum Brisi , seinem Lieblingsberg. Am Tag darauf fand ihn die Alpine Rettung der Ostschweiz unter einem Felsvorsprung vierhundert Meter unterhalb des Gipfels, erfroren, mit einer zerrissenen Hose und Schürfwunden an den Händen, aber einem Lächeln im Gesicht.
„Warum? Warum? Warum?“, hatte Berta geschrien und mit ihren Fäusten auf den Tisch gehauen, als wolle sie ihren Schmerz von sich weg in das Holz hämmern. Damals habe sie viel geweint, erzählte sie Johann eines Abends bei einem Glas Wein.
Wie es zu dem Unglück am Berg gekommen war, Tatsachen und Vermutungen, hielt ein Bericht fest: Zu Hause sei er bei Sonne und wenigen Wolken losgefahren, hatte Berta zu Protokoll gegeben. Am Vormittag sei es auf der Nordseite der Churfirsten bewölkt gewesen, aber nach Niederschlag habe es nicht ausgesehen, sagten Bauern, die dort ihr Vieh auf der Weide hielten. Dennoch sei am frühen Nachmittag ein Unwetter mit Sturm und Hagel über sie hinweg gefegt. Der Hagel habe den Bergpfad in eine Eisbahn verwandelt, meinten die Alpinen Retter, ohne spezielle Ausrüstung wäre der Abstieg nicht möglich gewesen. Die Schürfwunden an den Händen und die zerrissene Hose wiesen darauf hin, dass der Tote versucht habe abzusteigen, dabei aber gestürzt sei.
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