Susanne erzählte, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt beinahe gestorben wäre. Deshalb habe sie keine Geschwister. Ihre Mutter sei auch ein Einzelkind, aber die Mitglieder der väterlichen Linie, die Fischers, seien sehr fruchtbar. Sie habe viele Basen und Vettern, von denen einige hier lebten, mit ihr aufwuchsen und die fehlenden Geschwister ersetzten. Ihre Eltern würden in einem Nachbarort wohnen. Dort hätten sie vor einigen Jahren ein großes Haus gekauft mit genug Platz für die Schreinerei ihres Vaters und die Physiotherapiepraxis ihrer Mutter.
Ob die noch arbeiteten, fragte Johann.
Nein, jetzt nicht mehr. Ihr Vater werkle herum, da ein Regal für Florian, dort einen Blumenständer für sie. Und ihre Mutter behandle noch ein paar alte Bekannte.
Das gefalle ihm, sagte Johann.
Susanne redete weiter: In der Schule habe sie keine Probleme gehabt, selbst Chemie und Physik seien für sie kein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Nebenher sei sie zum Tennis und in den Ballettunterricht gegangen.
Bei dem Wort Ballett ging Johann ein Licht auf. Deshalb tanze sie so gut, bemerkte er.
Ja, damit habe es begonnen, aber richtig tanzen gelernt habe sie im Tanzclub Latinos , in den sie mit sechzehn eingetreten sei. Sie habe eine schöne Jugend gehabt. Ihre Eltern und die Eltern ihrer Mutter hätten sie mit Liebe umsorgt und für jeden ihrer Wünsche ein offenes Ohr gehabt. Sie sei brav gewesen, nur mit achtzehn habe sie etwas Böses gemacht.
Jetzt sei er aber gespannt, sagte Johann.
Weil ihr die Debatten über Abtreibung auf die Nerven gegangen seien, habe sie spät in der Nacht mit roter Farbe an eine Wand der Stephanskirche Mein Bauch gehört mir gesprayt.
Johann lachte.
Wenige Tage später habe jemand unter ihre Worte mit brauner Farbe Diese Mauer aber nicht geschrieben. Das sei bestimmt der Pfarrer gewesen, habe sie damals gedacht.
Er prustete los. Das sei eine tolle Geschichte. Nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er nachdenklich, er habe auch manches Böse gemacht: Geklaut, geprügelt - nichts Großes und auch nicht allein; in der Gruppe habe man sich gegenseitig hochgeschaukelt. Das liege lange zurück. Heute schäme er sich dafür.
Wie er von Hamburg in den Süden gekommen sei, fragte Susanne.
Nach dem Abitur sei er seiner Freundin Dagmar nach Tübingen hinterhergelaufen und habe an der Eberhard-Karls-Universität studiert. Auf der Suche nach einem aufregenderen Umfeld sei Dagmar am Ende des zweiten Semesters weiter gezogen nach München, aber ohne ihn, er sei bis zum Examen in Tübingen geblieben. Ihm habe es dort gefallen. Tübingen sei eine alte Studentenstadt, mit preiswerten Kneipen und dem Neckar, auf dem im Sommer Studenten in Stocherkähnen schipperten. Er habe auch den Botanischen Garten gemocht, sei gern mit einem Lehrbuch unter exotischen Bäumen gesessen. Er ging im Geist durch, was noch erwähnenswert sei, fuhr dann fort: Die Neckarzeile mit dem Hölderlinturm an einem Ende sehe malerisch aus. In einem der Häuser mit einem Balkon hin zum Fluss lebe das Zimmertheater. Dort habe er einige groteske Stücke gesehen. Er erinnere sich an Warten auf Godot von Samuel Beckett und König Ubu von Alfred Jarry.
Susanne erzählte von Indien, von den prächtigen Bauwerken und der unbeschreiblichen Armut der Menschen, auf der einen Seite goldene Paläste, auf der anderen Familien, die auf der Straße lebten und ihren Wohnplatz durch eine Reihe von Kieselsteinen zur Nachbarfamilie abgrenzten. Diese Bilder seien für sie und ihre Freundin Petra schwer zu verkraften gewesen. Und die unzähligen Bettler, alle zwanzig Meter einer. Und der Lärm in den Städten, und der Verkehr - ein wildes Durcheinander von Fahrradrikschas, Ochsenkarren, ratternden Dreiradtaxis, hupenden Bussen - und dazwischen magere, heilige Kühe und Massen von Fußgängern.
Erholung hätten sie in Goa gefunden. Die Leute seien dort weniger arm und es gebe genug zu essen: Fisch aus dem Meer, Reis, Bananen, Kokosnüsse. Sie hätten sich unter die Hippies an der Anjuna Beach gemischt, gefaulenzt und an einer einsamen Stelle nackt im Meer gebadet.
Das sei ein schönes Bild, sagte Johann.
An Werktagen stand Johann spätestens um sechs Uhr auf, schlich ins Badezimmer, putzte seine Zähne, wusch und rasierte sich. Mit Hose und Bademantel bekleidet ging er in die Küche und richtete das Frühstück für seine Töchter und sich - Corn Flakes, Vollkornbrot, Frischkäse, Kirschmarmelade, Joghurt, Fruchtsaft, Milch, Kakao und Tee. Danach weckte er die beiden Schülerinnen, nicht ohne vorher noch einen Blick auf die an der Tür des Küchenschranks hängenden Stundenpläne geworfen zu haben; bloß nicht zu früh wecken!
Conny will Wissenschaftlerin werden - wie Marie Curie, verkündete sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit. Sie lernt leicht und gleicht nicht nur mit ihrem hellwachen Geist sondern auch mit ihrem braunen Wuschel aus Naturlocken und ihrem zierlichen Äußeren ihrer Mutter. An der Oberlippe trägt sie ein Piercing, einen kleinen Ring aus Nickel-freiem Silber. Johann neckte sie mit der Bemerkung, dass der Ring farblich gut zu der Zahnspange in ihrem Mund passe.
Marion schlägt mehr nach ihm, ist im Körperbau größer und kräftiger als Conny und im Kopf nicht spontan, eher bedächtig. Sie hatte den Verlust ihrer Mutter weniger gut überstanden als Conny, hatte über Monate immer wieder Phasen gehabt, in denen der Schmerz sie beherrschte. Dann weinte sie viel und redete wenig. Bertas Arme, in denen sie gerne lag, und das Meerschweinchen Susi, das sie zu ihrem elften Geburtstag geschenkt bekam, holten sie allmählich aus ihrer Trauer heraus.
Neue Sorgen um Marion hatte er sich im letzten Jahr gemacht. Die Polizei hatte ihn vorgeladen. Na, so was! Es könne sich nur um ein Verkehrsdelikt handeln, dachte er und rätselte, wo und wann er zu schnell gefahren sei. Oder hatte er eine rote Ampel übersehen? Doch es ging nicht um ihn. Auf der Dienststelle eröffnete ihm ein junger, forscher Polizist, dass seine Tochter Marion Mitglied der Jugendbande sei, die sie vor vier Tagen beim Einbruch in eine leer stehende Villa geschnappt hätten.
Ungläubig hatte er den Beamten angeschaut und ohne zu zögern erwidert, da müsse ein Irrtum vorliegen, seine Tochter würde bestimmt nirgends einbrechen.
Vielleicht jetzt noch nicht, erklärte der Polizist. Ihr Name sei in dem Notizheft gestanden, das sie bei dem Gangleader gefunden hätten. Sie sei noch kein aktives Mitglied. Deshalb hätte sie, so vermute er, bei diesem Einbruch nicht mitmachen dürfen.
Angeschlagen, wie ein Boxer kurz vor dem Aus, war er von dem Polizeiposten ins Freie gewankt. Auf dem Heimweg murmelte er mehrmals vor sich hin: „Es hätte schlimmer kommen können.“
„Marion, Schatz, was machst du denn für einen Scheiß?“, fragte er sie. „Wie kannst du nur? Denk doch an deine Mutti, was würde die wohl dazu sagen? Haben wir durch Sophies Tod nicht schon genug Leid erfahren?“
Er nahm sie in den Arm. Sie heulte los und nuschelte, es tue ihr leid. Ihre Tränen rollten auf seinen Pulli. Sie solle ihm versprechen, dass sie sich von dieser Bande fernhalten werde. Schräg von unten blinzelte sie ihn an und setzte voll Reue einen weiteren Tränenschub frei. Sie verspreche es, sagte sie. Die Gang habe sich aufgelöst. Rudi, der Leader, sei in ein Erziehungsheim gesperrt worden. Johann atmete auf.
Von der Wohnung am Rande der Altstadt konnten beide Mädchen ihre Schule zu Fuß erreichen. Johann fuhr die fünf Kilometer zur Firma Li-Filter mit dem Auto. Wenn es irgendwie ging, kehrte er zwischen fünf und sechs Uhr nach Hause zurück, oft mit Arbeit im Gepäck für die Nacht. Zuerst redete er ein paar Worte mit Ailin, fragte sie, wie es ihr gehe, wie sie mit den Mädchen zurecht- komme, was sie morgen kochen werde, und ob noch genügend Einkaufsgeld in der Kasse sei.
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