„Beten? Wozu?“, Johann ging an ihr vorbei weiter in Richtung Eingangstüre, Frieda kam hinter ihm her.
„Was meinst du wozu?“
Johann drehte sich zu ihr um.
„Es ist besser, wenn du jetzt nach Hause fährst, Frieda. Ich habe heute genug darüber gesprochen und weiß gerade auch nicht, was ich sagen soll. Und ehrlich gesagt bin ich es auch leid. Es war ja auch dumm von uns zu denken, der Krieg würde nicht bis zu uns kommen.“
„Aber es wird sich lohnen. Er ist sicher bald vorbei und dann wird sich alles für uns ändern.“
„Meinst du? Ich will gar nicht, dass sich alles ändert. Es geht uns gut. Kein Mensch weiß, wozu wir diesen Krieg führen und ich will es auch nicht wissen.“
„Vater sagt, es sei klug, in die Partei einzu...“, weiter kam sie nicht.
„Hör zu Frieda. Verzeih mir, wenn ich jetzt nicht weiter darüber sprechen will. Sei vorsichtig und komm gut nach Hause.“, damit verschwand er im Haus und ließ Frieda auf dem Hof im Dunkel zurück. Er stand noch eine Weile an der Tür gelehnt da, bis er nach einigen Minuten endlich hörte, wie sie sich auf den Sattel setzte und davon fuhr. Es war ihm bewusst, dass er sie verletzt hatte. Und genau hier, in diesem Moment, an dieser Tür und in dieser Nacht fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er war wie alle anderen. Genauso engstirnig und egoistisch. Er wollte sich nicht damit befassen, was geschehen würde, sollten tatsächlich seine Freunde der Wehrmacht beitreten müssen.
Oder der SS.
Sollten meine Freunde fallen...
Den Krieg auszublenden und so weiterzumachen wie zuvor, war für ihn ein guter Weg. Für ihn und für alle anderen auch. Doch das ging jetzt nicht mehr. Es war vorbei mit Frieden in Kriegszeiten und der Idee, es ginge ihn nichts an. Johann musste erwachsen werden und sich schleunigst einen Weg einfallen lassen, wie er seine Familie schützen konnte. Er musste Frieda loswerden und sich nur noch um den Hof kümmern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn wieder dazu drängen würde, einzutreten und der Nazi-Ideologie zu folgen. Johann war vieles, aber er war nicht gewaltbereit und auch kein Patriot, der freiwillig für sein Land sterben wollte. Er schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Es würde eine lange Nacht werden, eine Nacht, in der an Schlaf nicht zu denken sein würde.
Als er am nächsten Morgen von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, hatte er gerade ein paar Stunden geschlafen. Er war nicht in der Lage gewesen, sich einen Schlachtplan für die kommenden Wochen, vielleicht sogar die kommenden Monate zurecht zu legen. Er hatte nicht einmal Ideen. Das war das Schlimmste überhaupt: Hilflos der gegebenen Situation entgegensehen zu müssen. Wie ein sich frei fühlendes Spiegelbild, das dem Original, gefesselt und geknebelt, beim Strampeln zusehen muss. Er konnte nichts tun und er hasste es. Er hasste es mitansehen zu müssen, wie alles vor die Hunde ging.
Als er sich im Bad für den anstehenden Tag zurecht machte, legte er nicht nur seine schlechte Laune und seine Unzufriedenheit ab, sondern auch seine Wut. Wie einen alten Hut, den man einfach vergisst aufzusetzen. Er hatte einen Beruf, nein: Er hatte eine Berufung und zwar solange es eben ging dafür zu sorgen, dass seine Freunde, Nachbarn und Kunden zumindest eine kleine Weile lang die anstehenden Schrecken vergaßen. Man musste sich manchmal auf seine Talente besinnen und nicht auf seine Ängste.
Und so schlug er als letztes Zeichen seines Unmutes die Zimmertür fest ins Schloss und trampelte so laut er konnte in die Küche hinunter. Seine Mutter saß am Küchentisch und lächelte, als sie ihn sah. Margareta stand bereits am Herd und bereitete den Tag vor. Er gab ihr einen Klapps auf den Hintern, nahm ihre gespielte Entrüstung zur Kenntnis und küsste sie auf die Wange, bevor er zur Tür hinaus war.
„Du musst was essen, Bub!“, schrie seine Mutter ihm hinterher.
„Keine Zeit.“, blökte er grinsend zurück und war sich der Lüge bewusst.
Er hatte Zeit, aber keinen Appetit.
Nachdem er sich um die Kühe und den Stall gekümmert und seine Männer gemeinsam mit seinem Vater auf den Weg in Richtung Arbeit geschickt hatte, legte er sich seine heutige Route fest. Seine Kundinnen im Nachbarort mussten heute mit seinen Waren ausgestattet werden. Es war der anstrengendste Tag der Woche, auch, weil er zu vielen seiner dortigen Kundschaft einen weniger guten Draht hatte. Viele sahen ihn nicht als Johann, sondern als Bauernjungen, der zu mehr eben nicht taugte. Nicht, dass ihm das in irgendeiner Art und Weise etwas ausgemacht hätte, es machte nur nicht soviel Freude, wie zuhause.
Er zählte gerade die Lieferscheine, als Anna in den Stall gerannt kam.
„Johann, komm’ schnell.“, stieß sie schnellatmend heraus.
„Was ist?“
„Sepp...“, keuchte sie „Er ist verrückt geworden.“
Johann rannte seiner Schwester hinterher in die Stube. Seine Eltern saßen am Tisch, die Köpfe feuerrot und erstarrt vor Angst.
Er war die Wut. Sie die Verzweiflung.
Für Johann normalerweise ein sicheres Zeichen, das Weite zu suchen. Doch er blieb – Natürlich blieb er.
„Was ist los?“, fragte er. Er ging schon einmal innerlich in Deckung.
„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.“, flüsterte seine Mutter. „Ich weiß es einfach nicht.“ Sie sah Johann an und ihre Augen waren feucht. Es schien jedoch, als würden sich selbst ihre Tränen nicht trauen, über die Wangen zu laufen.
„Er ist fort. Gegangen.“, sagte sein Vater.
„Gegangen? Wohin denn?“, langsam nervte ihn die bruchstückhafte Berichterstattung seiner Eltern. „Würde mir bitte jemand sagen, was hier los ist?“
„Er ist in die Stadt gefahren und will sich freiwillig melden.“, seine Mutter sah zum Fenster hinaus „Er will kämpfen.“ Sie sah Johann an und die Tränen waren fort. Er blickte an eine wütende, sich gefährlich an sich haltende Mauer, hinter der eine aufbrausende Wut lauerte, die ihre Fratze zeigte. „Geh, Johann. Geh und verhindere es.“
Und Johann ging.
Keine Diskussion, keine Wiederworte, keine Zeit, sich eine Meinung zu bilden oder sich darüber aufzuregen. Auf dem Weg in die Stadt machte er sich Gedanken darüber, wie es auf einmal dazu gekommen war. Bisher dachte er immer, Sepp sei, wie er und seine Schwestern, unpolitisch, resistent gegenüber der Propaganda. Er fragte sich, was geschehen war und warum sich sein 20jähriger Bruder gerade aufmachte, sich in ein NSDAP-Büro zu begeben.
Johann trat in die Pedale, der Schweiß ließ ihm über das Gesicht und er atmete schwer. Er war kein Sportler und auch nicht daran interessiert einer zu werden. Er hatte für diesen Auftritt also nicht trainiert, sich nicht vorbereiten können. Er bog auf die Hauptstraße ein und wurde schneller. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er zu spät käme. Er fuhr die leichte Linkskurve entlang, an deren Ecke der Bäcker wohnte, und sah Sepp auf dem Bürgersteig laufen. Er ging schnell, schneller als normal. Vielleicht, so hoffte Johann, ging er so schnell, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was er da gerade tat – und warum er es tat. Johann kam neben ihm zum Stehen und ließ sein Fahrrad auf den Bürgersteig fallen. Es machte einen lauten Krach, als der Rahmen auf den Boden aufschlug. Sepp fuhr herum, erkannte seinen Bruder und seine Augen wurden groß. Er drehte sich um und lief schneller. Das Büro war nur noch wenige Häuserecken entfernt, Johann konnte schon die Soldaten sehen, die davor standen und rauchten. Bitte, lass es keine SS sein , schoss es ihm durch den Kopf.
Er rannte hinter seinem Bruder her, es sollte nicht zu aufgeregt wirken, er durfte unter keinen Umständen die Aufmerksamkeit der Soldaten erregen, sonst war alles aus. Sepp drehte sich immer wieder um und bemerkte, dass der Abstand weniger wurde, Johann holte alles aus seinem wenig sportlichen Körper heraus und holte Sepp schließlich ein. Er packte ihn am Arm und riss ihn zurück. An die Hauswand eines Nähgeschäfts gedrückt, war der Ton gedämpft, aber scharf.
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