„Was tust du denn?“, pfiff er Sepp an „Bist du verrückt geworden?“
„Lass mich!“, Sepp versuchte sich loszureißen. Sein dunkles, lang gewordenes Haar flog hin und her, Johann ließ nicht locker.
„Du kommst sofort mit nach Hause.“
„Nein.“
„Was soll das denn, Sepp?“, Johann sah sich um und versicherte sich, dass niemand ihn belauschte. Die Soldaten lachten und schlugen sich auf die Schulter. Wahrscheinlich erzählten sie sich dreckige Witze. „Was ist nur in dich gefahren?
Sepp sah ihn aus wütenden Augen an und riss sich los. Er zog sich seine dünne Jacke zurecht.
„Also?“, Johann wurde ungeduldig. „Bin ich keine Antwort wert?“.
„Was willst du denn von mir?“, schrie Sepp ihn an.
„Nicht so laut!“, unterbrach ihn Johann schnell und sah sich um. Ein Soldat schaute neugierig in seine Richtung. „Bist du wahnsinnig?“
„Ich bin nicht wie du.“, sagte Sepp nun ruhiger. Auch er hatte die Soldaten bemerkt. „Ich bin kein Feigling. Ich will für mein Land kämpfen, weil ich daran glaube, dass es richtig ist.“, Sepps Augen waren kalt und Johann ging einen Schritt zurück.
Da war keine Angst.
Keine Panik.
Es war Entschlossenheit.
„Alles in Ordnung hier?“ Ein junger, blonder Soldat in Wehrmachtsuniform stand plötzlich neben Johann. Von einem Moment auf den anderen entglitt ihm jegliche Kontrolle über die Situation. Er wäre nicht in der Lage einzugreifen ohne sofort verhaftet zu werden, wenn Sepp nun einfach weiterging. Vaterlandsverrat beging schon, wer derart offensichtlich nicht an den Krieg glaubte.
„Alles in Ordnung, danke.“, erwiderte Johann schnell und sah zu seinem Bruder. Sein Blick war flehend. „Mein Bruder und ich haben nur schlechte Nachrichten bekommen.“ Der Soldat schaute beide abwechselnd an.
„Aha.“, kommentierte er.
„Wir gehen. Vielen Dank.“, versuchte sich Johann zu verabschieden und sich zwischen ihm und seinem Bruder zu platzieren.
„Heil, Hitler.“
„Ja. Heil, Hitler.“, gaben die Brüder zurück und der Soldat ging zu seinen Kameraden zurück. Johann schnappte sich sein Fahrrad ohne seinen Bruder loszulassen und ging die Hauptstraße weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.
„Was glaubst du, hast du jetzt gewonnen?“, fragte Sepp ihn ohne stehenzubleiben.
Nichts. Nur Zeit.
Johann antwortete ihm nicht und ging weiter. Um ein Haar hätte er seinen Bruder an den Krieg verloren. Um ein Haar wäre alles aus gewesen.
Katharinas Hoffnung stieg, dass sich ihr Leben entscheidend ändern würde. Der Herr des Hauses war erstaunlich wenig zu Hause seit der seltsame Besuch gegangen war. Wichtige Geschäfte hielten ihn wohl davon ab, das heimische Bett zu beanspruchen. Katharina war es recht. Zu Frau Schmid bekam sie ein immer besseres Verhältnis, was wohl vor allem daran lag, dass sich Maria nicht über sie beklagte. Das höchste Lob der Köchin war, wenn sie nichts sagte und das wusste auch die Dame des Hauses. Die Feste blieben klein und beschaulich oder blieben ganz aus. Ab und an verirrten sich ein paar Freundinnen in das große Anwesen oder ein befreundeter Geschäftsmann schaute vorbei. Es blieb ruhig und Katharina kannte nun fast schon alle Räume des Anwesens. Heute war sie damit beschäftigt sämtliche Betten frisch zu beziehen, was ihr im Grunde die meiste Freude machte. Hier war sie ganz allein und sie konnte an dem herrlichen Stoff riechen und sich vorstellen, wie sie darin schlafen würde. Sie wusste, dass das nie der Fall sein würde, aber es hatte etwas Unbeschwertes, sich in einem viel zu großen Schlafzimmer von seinen Gedanken fortspülen zu lassen. Sie schüttelte gerade das zweite Kopfkissen auf, als Christel ins Zimmer spickte.
„Da bist du ja.“, rief sie aufgeregt. „Mein Gott, manchmal hasse ich dieses riesige Haus. Wenn du sagst du gehst die Betten beziehen, brauche ich in Zukunft noch die Zimmerangabe, sonst irre ich auch das nächste Mal wie eine Blöde durchs Haus. Aber egal. Hör zu.“, Ihr Tonfall wurde verschwörerisch und Katharina wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. „Heute Abend gehen wir auf das Stadtfest. Du. Ich.“, sie unterbrach sich „Und ein paar Freunde.“, sagte sie schnell. „Das wird sicher lustig.“, Erwartungsvoll sah sie Katharina in die Augen und erwartete vermutlich Freudentaumel. Der blieb aus – Katharina war schließlich immer noch Katharina und kein vollkommen neuer Mensch geworden.
„Ich glaube nicht, dass ...“, weiter kam sie nicht.
„Ah. Ah. Ah.“, Christel schloss die Augen und winkte ab „Nichts da. Du gehst mit. Ich habe den anderen schon gesagt, dass du auch mitkommst. Es interessiert mich eigentlich auch nicht, wie du das findest. Du kommst mit. Fertig.“
Katharina ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie war erschöpft und musste sich eingestehen, dass sie gegen Christel nicht ankam. So gar nicht. Eine Idee hatte sie noch.
„Ich habe nichts anzuziehen.“, versuchte sie es kleinlaut und obwohl es stimmte, wusste sie schon, wie die Lösung für dieses Problem aussah.
„Kein Problem. Ich leih dir was.“
Problem gelöst.
Verdammt .
Frau Schmid verließ bereits am späten Nachmittag das Haus und hatte Maria gesagt, dass es heute später werden würde. Optimale Voraussetzungen also, um die Sperrstunde zu umgehen. Trotz dass die Mädchen auch Feierabend hatten, waren sie doch angehalten, auf die Hausregeln zu achten. Und die waren nicht verhandelbar. Deswegen war es Katharina auch mehr als unrecht, diese Regeln absichtlich zu verletzen. Als sie aus ihrer Kammer kam, trug sie ein blaues Kleid mit weißen Margeriten darauf. Es war hübsch. Zu hübsch für Katharinas Geschmack. Doch als Christels Blick auf sie fiel wusste sie, dass sie sich die anstehende Diskussion auch durchaus sparen konnte. Gut, dann sieht das Kleid eben hübsch an mir aus.
Die Sonne schien noch hell, als Christel und Katharina das Festgelände betraten. Hätte man die Szenerie in eine andere Zeit versetzt, man würde nicht glauben, dass sich die Menschen hier im Krieg befanden. Es war eine bunte Masse an Einheimischen – Fremde verirrten sich nicht hierher. Viel zu stark geschminkte Frauen, die Christel schnell und unwiderruflich als „leichte Mädchen“ abstempelte, mischten sich unter Soldaten und einfache Bauern. Katharina wusste immer noch nicht, was zur Hölle sie hier eigentlich tat.
„Schau nicht so grimmig drein, Herr Gott.“, Christel hakte sich bei ihr unter und zerrte sie in Mitten der Festgemeinde. Die Musik war laut, ganz so, als könne man dadurch den Krieg aussperren, dabei war er schon unter ihnen allen. Aufmerksame Beobachter konnten ihn sogar sehen, wie er sich an die Schultern einer alten Frau heftete, die gerade an einem Bierkrug nippte. Oder am Revers eines Soldaten, der einen winzigen Moment verpasste, seine Erlebnisse auszublenden. Oder am gelben Kleid eines kleinen Mädchens, das seinen Vater vermisste. Doch aufmerksame Beobachter waren selten hier an diesem Ort. Hier, wo man krampfhaft versuchte die Realität zu ignorieren. Auch Katharina bemerkte es nicht. Sie war damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie sie zuhause im Bett lag und damit, eine möglichst unkomplizierte, aber effiziente Lüge zu spinnen, die sie von all dem hier befreite.
„Christel.“, Katharina blieb stehen. „Was sollen wir denn hier?“
„Einen Mann finden, was denn wohl sonst?“, sie sah ihre Freundin an, als hätte Katharina einen Knall, den alle außer ihr selbst hören konnten.
„Einen Mann? Was soll ich denn mit einem Mann?“ Doch bevor Christel ihren entsetzten und verwirrten Blick ablegen konnte, um zu einer Erwiderung anzusetzen, kamen zwei junge Frauen auf sie zu. Christel war abgelenkt und dadurch war Katharina vor einer echten Auseinandersetzung sicher. Vorerst.
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