Es war beinahe Mitternacht, als die Gäste sich auf der Terrasse lautstark unterhielten, lachten und auf den Führer anstießen. „Heil Hitler!“, war sogar bis in die Küche zu hören. Als Katharina, die gerade das Esszimmer von nicht mehr benötigtem Geschirr befreite an der großen Fensterfront vorbeiging, spähte sie nach draußen. Sie sah Uniformierte mit ihren Frauen und ein paar Kinder, die auf dem Rasen herumtollten. Offenbar nahm man es mit den Bettzeiten bei solchen Persönlichkeiten nicht allzu genau. Die Männer trugen alle zur Seite gekämmte Scheitel und machten auch wenn sie lachten keine ausgelassene Figur. Manche sahen aus wie die Männer der SS, von denen Katharina gehört hatte. Streng, grausam und fies. Frau Schmid saß mit einigen Frauen etwas abseits und unterhielt sich angeregt. Es schien, dass sich die mitgebrachten Eheweiber über angenehmere Dinge unterhielten. Die Männer in der Runde schienen eher an niveaulosem Schalk interessiert zu sein. Sie lachten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und spuckten ihr gerade getrunkenes Bier wieder auf den Boden vor lachen. Katharina wandte sich ab und eilte zurück in die Küche. Sie hatte genug gesehen.
Maria schickte sie wenig später in den Nebenraum der Küche. Hier stand der Hauptgang auf einem Tisch. Dampfend und duftend, als sei heute ein Weihnachtsmorgen in einer gänzlich anderen Zeit. Sie wusste nicht, was sie tun sollte und drehte sich zu Maria um.
„Was guckst du so?“, blaffte Maria sie an. „Iss. Es wird kalt. Christel kommt auch gleich. Warum sollen wir es wegschmeißen. Es wäre schad’ dafür!“
Katharina konnte es nicht glauben. Sie hatte nicht gewusst, wie hungrig sie war, als sie sich an den Tisch setzte und zu Essen begann. Als Christel zu ihr stieß, war Katharina schon fast fertig. „Schmeckts?“, grinste Christel. „Ich sterbe vor Hunger.“ Maria erschien und stellte auch ihr einen Teller hin. „Es riecht köstlich!“, freute sich Christel.
„Nicht nötig zu reden. Nur essen.“
Katharina sah, wie Marias Mundwinkel ein kurzes Lächeln umspielte.
Katharina legte ihr Musterverhalten kurz beiseite, das sich vor allem mit der angeborenen Distanz zu anderen Menschen zeigte.
Ich mag sie. , stellte sie erstaunt fest. Ja, ich mag sie wirklich. Alle beide.
***
Katharina lebte sich im Haus der Schmids ein, behielt aber den Rat der Hausherrin stets im Kopf. Sie blieb unsichtbar und arbeitete hart um den Ruf ihrer Familie abzuschütteln. Sie war nicht wie er. Wie sie vielleicht, dagegen konnte sie nicht viel tun. Aber wie er? Niemals!
Sie kümmerte sich gerade um die Vorhänge im Arbeitszimmer des Hauses, als die Tür aufging. Der Hausherr schritt hinein ohne sie eines Blickes zu würdigen. Katharina hängte gerade den letzten Vorhang ab um ihn zu waschen, als er sie ansprach. „Wie geht es deinem Vater?“, wollte er wissen.
„Er ist nicht mein Vater.“, gab Katharina zurück. „...und ich weiß es nicht.“, schob sie schnell hinterher.
„Du magst ihn nicht.“, Er lachte anhand seiner eigenen Feststellung. „Vielleicht bist du doch nicht so dumm, wie ich dachte. Sei lieber froh, dass du von ihm weg bist. Er taugt wirklich nicht viel.“
Katharina reagierte nicht. Sie wusste nicht wie.
„Komm her.“, befahl er plötzlich.
Katharina hatte auf einmal ein ungutes Gefühl. Angst überkam sie und angesichts des geschlossenen Raumes war sie ihm auch geradezu hilflos ausgeliefert. „Ich muss mich um die Wäsche...“
„Komm her!“, brüllte er und sein Kopf wurde rot.
Katharina ließ die Vorhänge fallen und begann auf den schweren Holzschreibtisch zuzugehen, als die Tür aufging.
„Erwin?“, flötete Frau Schmid. Katharina wusste, dass sie nicht alleine war, ansonsten wäre der Ton weniger lieblich ausgefallen. „Besuch für dich.“
„Geh.“, sagte er an Katharina gewandt. Sie raffte die Vorhänge zusammen und eilte zur Nebentür hinaus, sodass sie nicht an den Herrschaften und ihrem Besuch vorbeimusste. Sie sah auch nicht, wer es war, so schnell war sie verschwunden.
Kreidebleich rannte sie in Christel hinein, die Katharina den Schrecken sofort ansah. „Was ist geschehen?“, fragte sie sofort.
„Nichts.“, versuchte sich Katharina aus dem unangenehmen Gespräch zu befreien. Auf keinen Fall wollte sie nun Schwierigkeiten verursachen – auch nicht bei Christel.
„Nun sag schon!“, Christels Frohnatur war verschwunden.
„Ich weiß es nicht. Eigentlich nichts. Ich war im Arbeitszimmer, als er reinkam. Er hat Fragen zu meinem Stiefvater gestellt und dann sollte ich zu ihm kommen.“
„Was ist dann passiert?“
„Seine Frau kam mit Besuch und ich bin rausgerannt.“
„Hör mir jetzt gut zu. Du wirst in Zukunft solche Situationen meiden. Ich übernehme das Arbeitszimmer und du gehst ihm aus dem Weg. Hast du verstanden?“
„Aber...“
„Nichts aber. Ich sagte dir, er ist ein Widerling. Er ist aber noch viel mehr als nur das. Er ist gefährlich. Halt dich von ihm fern.“
Damit war die Unterhaltung zu Ende und Christel rauschte davon. Katharina schluckte den Schrecken die trockene Kehle hinunter und versuchte die erlebte Situation zu vergessen. Es gelang ihr schnell, in dieser Hinsicht machte ihr niemand so schnell etwas vor. Sie machte sich nur noch einmal bewusst, dass sie ihn in Zukunft in jedem Fall meiden musste. Wie er sie angesehen hatte, mit welchem Ton er sie zu sich bestellt hatte, wie dunkel seine Augen gewesen waren.
Er passte perfekte in die Zeit, in der sie lebte.
Johann Wagner war ein Schelm. Bereits als Kind hörte er mehr die Bezeichnung Lausbub als seinen richtigen Namen. Dabei war eigentlich nichts an seinem Leben wirklich komisch. Als ältester Sohn mit drei älteren Schwestern und einem jüngeren Bruder trug er die Verantwortung seiner ganzen Welt auf seinen Schultern. Doch Johann war seit jeher der Meinung, dass es sich nicht lohnte den Spaß am Leben zu verlieren. Nicht, als er für alles verantwortlich war und gemacht wurde und nicht, als Hitler an die Macht kam und sich Deutschland immer wieder und immer weiter veränderte. Er bekam ohnehin nicht viel davon mit. Die Familien, denen es wirklich schlecht ging, hatten echte Probleme. Sie hatten Hunger, sie froren in kalten Wintern, sie brachen auseinander. Johann hatte diese Probleme nicht, weil sein Vater schon immer ein hart arbeitender Mann gewesen war. Er hatte einen Hof aufgebaut, der mit vielen Häusern Handel trieb. Dank der Tiere und den Feldern war die Zukunft hier in diesen vier Wänden gesichert. Johanns Vater befehligte sein Personal mit Autorität und gutem Willen. Seine Untergebenen schätzten ihn, weil er ein ehrlicher Mann war und auch diesen Ruf in der Gemeinde genoss. Und es gab noch eine weitere, weitaus wichtigere, positive Eigenschaft der Bauernfamilie: Sie war großzügig. Der Hof funktionierte und er verdiente mit den reichen Schnöseln in den Nachbarorten genug Geld, weil seine Waren einen qualitativen Wert besaßen. Und so mussten auch seine Mitarbeiter nicht hungern. Sie verdienten nicht das große Geld, sorgten aber zuhause für volle Mägen. Johanns Mutter versuchte in regelmäßigen Abständen immer wieder eine gewisse Strenge einzuführen. Sie scheiterte aber an der Starrköpfigkeit ihres Mannes und ihres Sohnes. Der hörte ihr immer gut zu, wenn sie ihm Ratschläge erteilte und machte dann doch was er wollte. Das hatte ihm sein Vater nachhaltig beigebracht: „Junge.“, hatte er gesagt „Mach, was du für richtig hältst. Und wenn ich nicht mehr bin, dann höre auf niemanden, außer auf dich selbst.“ Er mochte kein weiser Mann sein, aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Johann verdankte seinem Vater viel, vor allem das Selbstbewusstsein, was dafür sorgte, dass sie weiterhin überlebten. Während er den Hof organisierte, mit anpackte wo gerade eine helfende Hand benötigt wurde, sorgten seine Schwestern Anna, Margareta und Marie für den Haushalt, verkauften Gemüse und Milch auf den umliegenden Märkten und hielten die Maschinerie am Laufen. Nur sein Bruder Sepp schlug in dieser Hinsicht aus der Art. Er ging bei einem Zimmermann in die Lehre und kehrte der Familie überwiegend den schweigsamen Rücken zu.
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