Ein allgemeines Räuspern löste die Spannung.
"Mitbrüder", hob der Großmeister wieder an, "das Siegel ist kein Gegenstand, der geeignet erscheint, die persönliche Eitelkeit einzelner zu befriedigen, oder derjenigen, die um der Mehrung ihrer persönlichen Macht auf Kosten der Bruderschaft willen glauben, einen Vorteil aus den Forschungen erlangen zu können!"
"Aber ich bitte Euch, Großmeister, was für eine Unterstellung!", empörte sich Bruder Pankratius direkt, da er sich zum Anwalt der Opposition zum Großmeister auserwählt fühlte. Dies hatte wiederum ein Nicken anderer Anwesender zur Folge, die er nun genau fixierte. Das waren seine Anhänger, die er protegieren musste.
Die Augen des Ältesten bohrten sich immer noch unangenehm in ihn, wie er feststellte, und so zog er es vor, in Deckung zu gehen und zu schweigen.
Auch der Großmeister wandte sich nun an ihn. "Bruder Pankratius. Bei allem gegenseitigem Respekt, wollen wir doch nicht so tun, als wenn uns die unterschiedlichen Motive, die jeden einzelnen von uns bewegen, im Orden seine Aufgabe zu erfüllen, unbekannt wären und als seien die allzu menschlichen Begierden uns fremd, die jeder von uns in sich trägt!"
Er blickte wieder in die erstaunten Gesichter der Anwesenden. So hatten sie ihren Großmeister noch nie reden hören. Einige fühlten sich gemaßregelt, andere eher bestätigt.
"Es war jedoch schon jeher ein Teil unserer Aufgabe und unseres Selbstverständnisses, auch den Kampf gegen die Schattenseite in uns selbst aufzunehmen und den ehrlichen Versuch der Läuterung zu wagen, trotz aller Verführungen, die unser jahrhundertealter Orden mit seinem erheblichen Einfluss in weite gesellschaftliche Kreise in sich birgt."
Er flüsterte fast, als er die nächsten Worte aussprach.
"Brüder, ich gestehe es nur ungern, aber ich beginne mich vor dem Siegel und dessen unheilvollen Wirkungen zu fürchten und flehe euch an, haltet inne und findet wieder zueinander!"
Bruder Pankratius schnaubte hörbar und wütend die angehaltene Luft durch die Nase aus. Was bildete sich dieser Laffe ein, sie wie dumme Schuljungen hier vorzuführen?
Niemals würde er seine Erkenntnisse, so spärlich wie sie auch waren, mit den anderen teilen, niemals! Ein derartiges Phänomen, wie es das Siegel offenbar darstellte, war eine einmalige Chance. Durch die gesamten fünf Jahrhunderte, die der ehrwürdige Orden wohl bestanden haben musste, konnte es keine vergleichbare Chance gegeben haben, nun endgültig die Macht zu ergreifen. Diese Schreiberlinge, die sich Erasmus von Rotterdam verschrieben hatten, der ebenfalls nichts weiter als ein Sesselpfurzer war, der sich einbildete, mit seinem Geschreibsel die Herrscher der damaligen Welt belehren zu müssen. Diese Schreiberlinge erkannten überhaupt nicht, dass sie es hier mit einem Faktotum zu tun hatten, dessen außergewöhnliche Herkunft den Verstand größerer Geister als der hier Anwesenden benötigte. Buchgelehrte ohne Saft und Kraft, die sich an staubigen alten Pergamenten festhielten und glaubten, damit die Welt begreifen zu können!
Immerhin musste er zugeben, dass derzeit mehr offen als gelöst war um das mysteriöse Zeichen. Und so besann er sich schnell, dass er vielleicht ein wenig den Ahnungslosen spielen sollte, um die anderen so weit als möglich auszuforschen.
Soweit er es bislang verstanden hatte, gab es eine Ähnlichkeit der Rückseite des Siegels mit dem Symbol der Rosenkreuzer, der Monas Hieroglyphe, jedoch nicht genug, um dort die Quelle seiner Herkunft zu vermuten. Immerhin konnte dies ein Ansatz sein.
"Was schlagt ihr vor?", meldete sich Bruder Raphael zu Wort, ein eher vorsichtiger, zurückhaltender Bruder, welcher, wie Pankratius wusste, sich der Tradition calvinistischer Schlichtheit verbunden fühlte, die seinen enormen Reichtum, als Herrscher über ein Altenpflegeheim-Imperium, welches sogar börsennotiert war, nicht anzusehen war. Dennoch regierte er mit starker Hand, orientierte sich an moralischen Grundsätzen des Humanismus und hielt sich im Wesentlichen im Hintergrund.
"Wir müssen unsere Kräfte bündeln und unsere Erfahrungen austauschen!", erwiderte der Großmeister.
"Ach", warf nun Bruder Michael ein, ein emeritierter Astrophysiker der Universität Bonn, der die vorurteilsfreie, wissenschaftliche Denkweise kultivierte und im Orden hochhielt.
"Wir haben ja noch gar nichts unternommen, um überhaupt eine Grundlage für unsere Forschungen zu legen. Wir wissen nicht einmal, ob das Siegel sich noch dort befindet, wo es deponiert war."
Zustimmendes Gemurmel war zu vernehmen.
Pankratius hob schweigend die Augenbrauen hoch und zog es vor, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.
"Brüder, das ist eben etwas, was ich mit euch besprechen möchte. Ich habe den Eindruck, dass wir alle unser Verhalten unmerklich verändert haben, seit das Siegel in unsere Hände gelangt ist. Es ist wie ...", er suchte mit hilfloser Geste nach Worten, "es ist wie eine Lethargie, die sich über uns gelegt hat. Wo ist unser Forschungseifer geblieben, wo unsere Neugierde? Warum sondern wir uns zunehmend voneinander ab, tauschen uns nicht mehr wie gewohnt aus?"
Ein erstauntes, aber zustimmendes Gemurmel ertönte aus der Runde.
Ein Bruder erhob sich spontan. "Unser Großmeister hat recht. Es ist, als wenn jeder bemüht wäre, einen Schatz zu hüten und vor den anderen zu verbergen. Eine gewisse habgierige Angst scheint jeden von uns ergriffen zu haben."
"Du übertreibst mal wieder, Bruder Valgus", kam es aus anderer Ecke und schon begann ein lebhafter und lautstarker Meinungsaustausch mit Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen.
Der Großmeister blickte hilfesuchend zu Bruder Adalbert hinüber, dieser schüttelte nur unmerklich den Kopf und deutete mit einer kleinen Geste an, die Diskussion zu beenden.
"Mitbrüder, ich bitte Euch. Bewahrt Haltung!", rief der Großmeister gegen den Lärm an.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Tumult gelegt hatte.
"Wir sollten nun erst einmal auseinandergehen und uns besinnen. Bitte teilt mir im Laufe der nächsten Tage mit, wie ihr euch die Weiterarbeit am Siegel vorstellt, damit wir zu einem Ergebnis kommen können."
Lange blieb er später wie erstarrt im Fenster stehen, durch welches das fahle Licht des beginnenden Tages hinein fiel, nachdem die Mitbrüder gegangen waren.
Auf ein scharrendes Geräusch hin, welches ihm sagte, dass Bruder Adalbert sich mühsam aus seinem Sitz erhoben haben musste, drehte er sich um.
"Was
ist nur aus uns geworden, Vater?", fragte er fast tonlos.
Bruder Adalbert schlurfte, sich mühsam auf seinen Stock stützend, auf ihn zu und legte die Greisenhand auf seine Schulter.
"Ich weiß es nicht, Bruder. Es scheint sich alles aufzulösen, die Bande scheinen zu zerbrechen, die wir viele Jahrzehnte geknüpft haben."
"Warum kommen wir nicht mehr zu einem konstruktiven Gespräch?", fragte der Großmeister ins Dunkel des Raumes?
"Im Moment geht es nicht miteinander", erwiderte der Älteste, ohne auf seine Frage einzugehen. "Wir müssen mit jedem einzelnen alleine sprechen!"
"Ein mühsames Unterfangen?", entgegnete der Großmeister.
Bruder Adalbert nickte. "Und nicht ungefährlich, da es Eifersüchteleien Vorschub leistet."
Beide schwiegen eine Weile, dann räusperte sich der Älteste. "Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, ja ich möchte sogar sagen, ich beginne Angst zu haben."
Der Großmeister schaute den Alten verwundert an.
Dieser hielt seinem Blick starr auf ihn gerichtet.
"Nicht war?", fragte er ihn dann gerade heraus.
Der Großmeister nickte.
Der Alte hatte sich bereits auf den Weg zur Tür gemacht, als er sich noch einmal umdrehte und zurückrief:
"Lieber Bruder, lass doch bitte einmal prüfen, ob das Siegel sich noch in den Bleikammern befindet. Das hätten wir schon längst tun müssen."
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