Sie sprachen eine ganze Weile, bis schließlich Michaels Zimmernachbar zurückkam. Britta drückte noch einmal Michaels Hand – der andere Patient musste ja nicht alles wissen – und wünschte den beiden eine gute Nacht. Sie selber machte sich daran, das Stationszimmer aufzuräumen. Später verzog sie sich mit ihrem Buch auf das Sofa in die Ecke. Es war ruhig auf Station. Keine Klingel summte, kein Telefon meldete sich. Gegen Mitternacht machte sie noch einmal eine Runde, öffnete leise die Türen der Zimmer und schaute, ob es den Patienten gut ging. Alle schliefen tief und fest.
Stephanie trat an den Abfertigungsschalter des Salzburger Flughafens. Sie lächelte in sich hinein. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie ihre beste Freundin verabschiedet und musste selbst zurück bleiben. Dieses Mal war sie selbst der Passagier. Sie stellte ihre Reisetasche auf das Förderband, reichte der freundlichen Dame am Schalter ihr Ticket und ihren Personalausweis und ließ sich einen Fensterplatz reservieren. Sie war schon oft geflogen, doch jedesmal wieder war sie fasziniert von den Eindrücken über oder unter den Wolken. So schön die Ausblicke auf die tief unter ihr liegende Erde waren, am allerliebsten schaute sie einfach den Formationen der Wolken zu, wenn das Flugzeug über diesen dahinschwebte.
„Wie Watte zum Reinspringen“, dachte sie auch jetzt wieder, als ihre Maschine sich nach einer Weile hoch über die Wolken geschraubt hatte. Sie hatte ein Buch im Handgepäck, doch die Wolken faszinierten sie so sehr, dass sie ihren Blick einfach nicht vom Fenster nehmen konnte. Sie schaute den weißen Riesen zu und hing ihren Gedanken nach. „Wenn es Gott wirklich gäbe, dann müssten wir ihm hier oben irgendwie näher sein“, dachte sie plötzlich ganz unvermittelt. In den letzten Wochen war sie zwei-, dreimal mit Britta zum Hauskreis gegangen, und es blieb nicht aus, dass sie begann, über Gott nachzudenken. Nach wie vor war sie überzeugt davon, dass es den ‘lieben Gott’ nicht gäbe. Bei so viel Ungerechtigkeit in der Welt, wo Kinder verhungerten und ermordet wurden, wo alte und auch junge Menschen grausam an Krankheiten wie Krebs starben und wo Menschen ihren Nachbarn und sogar ihrer Familie gegenüber derartig gleichgültig waren, da konnte es keinen lieben Gott geben. Ein Gott, der von sich behauptet, ‘lieb’ zu sein, aber all dies zuließ, war entweder ein grausamer Sadist oder nicht existent. Stephanie entschied sich für die letztere Variante. Einen sadistischen Gott konnte sie sich noch weniger vorstellen als einen lieben.
Trotzdem – in Britta hatte sie eine echte Freundin gefunden, und auch die anderen Christen aus dem Hauskreis wurden ihr langsam vertrauter und auch sympathischer. Als Heidi kürzlich ihren Geburtstag feierte, hatte sie Stephanie selbstverständlich mit eingeladen, und es war eine wirklich schöne Feier mit netter, freundlicher Atmosphäre gewesen. Hier waren noch mehr Leute gewesen, die Stephanie noch nicht kannte, und die meisten von ihnen schienen auch zu einer der Gemeinden zu gehören, von denen sie nun schon einiges gehört hatte. Irgendwas verband diese Leute, das war nicht zu übersehen. Sie hatten eine gemeinsame Überzeugung. Das hatten andere Vereine und Gruppen auch, doch in dieser Gemeinschaft hatte Stephanie das angenehme Gefühl, dass niemand ihr seine eigene Überzeugung aufdrängen wollte. Vielmehr nahm man sie einfach so, wie sie war. Das half ihr, ihre anfängliche Scheu zu verlieren und lockerer zu werden im Umgang mit den anderen. Ihre Freundlichkeit war absolut ehrlich und hatte keinen ‘Hintergedanken’.
Jana sah das immer noch anders. Jedes Mal, wenn die Sprache auf das Thema kam, wurde die Krankenschwester von ihrer Freundin gewarnt. Wenn sie sich erst einmal wirklich auf die Leute eingelassen hätte, dann kämen sie bestimmt raus mit ihren Absichten. Es sei doch bekannt, dass diese Sekten immer erst Freundlichkeit mimen würden, bis ihre Opfer angebissen hätten. Dann irgendwann käme die Aufforderung, sich ihrer Gemeinschaft mit Haut und Haaren – und vor allem Geld – auszuliefern; Gehirnwäsche inklusive.
Stephanie nervten diese Gespräche inzwischen. Sie hatte weder vor, sich irgendeiner Gemeinschaft mit Haut und Haaren auszuliefern, Geld sei bei ihr sowieso nicht zu holen, und zu einer Gehirnwäsche gehörten immer noch mindestens zwei: der Wäscher und derjenige, der sich waschen lassen würde. Außerdem war sie überzeugt davon, dass das vielleicht auf ein paar merkwürdige Sekten zutraf, aber mit Sicherheit nicht auf ihre Bekannten. Sie liebte Jana wirklich, aber sie hatte nicht die geringste Lust, sich von ihr jedesmal wieder ihre neuen Freunde madig machen zu lassen. Mehrmals hatte sie ihr schon entgegengesetzt, dass sie durchaus selber in der Lage sei, auf sich aufzupassen und auch zu unterscheiden, was einfach normale Freundlichkeit und was Seelenhascherei war. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Jana auch ein bisschen eifersüchtig auf Britta war, mit der Stephanie sich von Tag zu Tag besser verstand. „Ich muss Jana unbedingt klar machen, dass Britta ihr nicht meine Freundschaft wegnimmt“, dachte sie, während sich tief unter ihr jetzt ein Fluss durch die Landschaft schlängelte und sich verschiedenfarbige Felder wie mit dem Lineal gezogen aneinander fügten.
Sie versuchte, die Gedanken an Gott abzuschütteln – ihr wurde unwohl, wenn sie sich zu lange damit beschäftigte. Doch ihre Gedanken wanderten nur weiter. Plötzlich stand ihr Michael vor Augen. Vor kurzem war er in eine Reha-Klinik bei Frankfurt entlassen worden, wo er wieder laufen lernen sollte. Sie hatte bewusst nicht gefragt, wohin genau, und auch seine Adresse hatte sie sich nicht notiert. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, diese aus der Krankenakte abzuschreiben. Aber sie hatte wenig Hoffnung, dass er ihre Gefühle erwidern würde, auch wenn sie sich immer besser verstanden hatten. Seit dem Tag, an dem Max ihnen dazu verholfen hatte, ein wenig privater miteinander umzugehen, hatten sie sich auch hin und wieder privater unterhalten, wenn niemand anders dabei war. Sie waren übereingekommen, dass von den Kollegen niemand zu wissen brauchte, dass sie sich duzten. Außer Britta, denn sie gehörte auch zu der kleinen Verschwörung.
Stephanie wollte aber vermeiden, dass die Stationsschwester davon hörte, und weder sie noch Michael oder Britta legten Wert auf sich schnell verselbständigende Gerüchte. Doch manchmal in der Mittagspause oder in den Nachmittagsstunden, wenn es ruhig war auf der Station, blieb sie ein wenig länger in Zimmer 23, und mit der Zeit lernten sie sich besser kennen. Stephanie wusste jetzt, welchen Beruf Michael ausübte, dass er einen jüngeren Bruder hatte, der in den Ostertagen Geburtstag feiern würde. Michael hoffte, schon dabei sein zu können.
Jetzt war Ostern. Genau gesagt war heute Gründonnerstag, und Ostern war erst in drei Tagen. Diese Unterscheidung hatte sie nie so genau genommen. Ostern, das waren vier zusammenhängende freie Tage, wenn man Glück hatte in ihrem Beruf. Ihre Hauskreisfreunde hatten sie allerdings darüber aufgeklärt, dass die Bedeutung vom Karfreitag und Ostern recht unterschiedlich war – erst sei Jesus gestorben und dann, eben Ostersonntag, wieder aufgestanden oder so ähnlich. Sie hatte nicht viel dazu gesagt. Sie war der Meinung, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle, und wenn sie das so glaubten, dann wäre sie die Letzte, die es ihnen absprechen würde. Sie konnte sich vielleicht gerade noch vorstellen, dass dieser Jesus irgendwann gestorben war, von ihr aus auch an ein Kreuz genagelt wurde. Das war früher in manchen Gegenden durchaus üblich gewesen. Aber tot ist tot. Wahrscheinlich hatten ein paar übereifrige Anhänger von ihm einfach nicht akzeptieren wollen oder können, dass ihr Führer plötzlich verschwunden war, mausetot. Und dann würde wohl jemand die Idee gehabt haben zu erzählen, er sei wieder lebendig geworden. Gerüchte hielten sich schon immer hartnäckig, bestimmt auch schon damals. Max war weise genug, das Gespräch rechtzeitig in eine andere Richtung zu lenken, so dass niemand unbewusst in gut gemeintem Evangelisations-Eifer die junge Frau verletzen oder verschrecken konnte.
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