Michael guckte immer noch überaus irritiert, was Max nicht im Geringsten dazu veranlasste, die Sache aufzuklären. Heidi gab ihm die Hand und erklärte dann: „Gestern Abend im Hauskreis hat Britta ... nun, sagen wir mal, ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert.“ Jetzt verstand Michael, und seine Mine hellte sich auf. „Das ist ja genial“, meinte er dann immer noch staunend. „Freu dich nicht zu früh“, gab Max nur trocken zurück, „du wirst den Tag noch bereuen, an dem du uns kennen gelernt hast.“ Michaels Gesicht wurde wieder zu einem Fragezeichen. Heidi nahm den Faden auf, bevor ihr Mann noch mehr Verwirrendes von sich geben konnte. „Nimm ihn nicht so ernst, er kann nicht anders. Aua!“ Max hatte sie gekniffen. „Als Britta gestern Abend von dir erzählte, hatte jemand die Idee, dass wir dich ab und zu mal besuchen könnten.“ Sie gab in wenigen Worten wieder, welche Idee am Abend vorher entstanden war. „Natürlich nur, wenn dir das überhaupt Recht ist“, fügte sie dann hinzu. „Und ob mir das Recht ist“, meinte Michael, „nichts habe ich in den letzten Wochen so sehr vermisst, wie ein paar leibhaftige Christen.“
Er wurde schnell warm mit Max und Heidi und war schon gespannt auf die anderen, die noch kommen sollten. Gott hatte eine echte Gebetserhörung geschenkt. Das junge Ehepaar war sehr nett, und Michael konnte sich ihnen gegenüber ohne Angst öffnen und über seine Situation sprechen. Er erzählte von seinem Urlaub, den er jedes Jahr hier machte, von dem Unfall, den beiden Operationen, sogar von Katrin, von seiner Verzweiflung und Schmerzen, und natürlich auch von den Fortschritten der letzten Zeit und der Hoffnung, Ostern wieder zu Hause zu verbringen. Bis dahin war es gar nicht mehr lange. „Und wenn nicht, dann kommt der Osterhase hierher gehoppelt“, unterbrach ihn Max. Michael musste lachen. „Auch eine nette Vorstellung, aber wenn ich ehrlich bin, würde ich ihn lieber in Frankfurt empfangen.“ Das konnten seine Besucher gut verstehen. Michael war froh wie schon lange nicht mehr. Es tat so gut, sich auf dieser ganz anderen Ebene unterhalten zu können, und schnell entstand eine Vertrautheit, die sie beinahe vergessen ließ, dass sie sich gerade erst kennen gelernt hatten. Die Gesprächsthemen gingen den dreien nicht aus, und sie vergaßen völlig die Zeit. Irgendwann ging die Tür auf.
„Hallo Stephanie!“ rief Max, kaum, dass sie das Zimmer betreten hatte. Die Krankenschwester guckte nicht weniger irritiert als Michael zwei Stunden vorher. „Was macht ihr denn hier?“ brachte sie schließlich heraus, nachdem sie Max und Heidi wiedererkannt hatte. „Einen Krankenbesuch“, antwortete Max mit der selbstverständlichsten Mine der Welt. Stephanie fiel keine Antwort ein. Er hatte wohl Recht, und im Grunde ging sie das ja auch überhaupt nichts an. Trotzdem versuchte sie, ihren Patienten und das Ehepaar aus Salzburg in eine Schublade zu bringen. Es gelang ihr nicht sofort. Wenn sie sich kannten, wieso waren sie nicht schon vorher einmal hier gewesen? Wenn aber nicht, was machten sie dann im Krankenzimmer von Michael Aschmann? Wieder war es Heidi, die die beinahe sichtbaren Fragezeichen über Stephanies Kopf auflöste. Sie erzählte noch einmal kurz vom Hauskreis am Tag vorher, und nun verstand Stephanie. „Stimmt. Darauf hätte ich auch kommen können, dass Britta dahinter steckt.“ Nun musste sie selbst lachen.
Dann erinnerte sie sich, warum sie überhaupt hier war. „Ich will euch auch gar nicht lange stören, ich habe nur eine kurze Frage an Herrn Aschmann.“ Sie wandte sich an Michael. Bevor sie ihr Anliegen näher erläutern konnte, fragte Max erstaunt: „Herr Aschmann? Ihr siezt euch??“ Stephanie sah ihn groß an. „Was denn sonst? Ich kann doch nicht einfach die Patienten duzen.“ Wieder spürte sie eine unangenehme Wärme in ihrem Kopf hochsteigen. Wie so oft, musste Heidi den Übermut ihres Ehemannes dämpfen: „Du duzt doch deine Kunden auch nicht.“ Stephanie war Heidi dankbar für die Hilfe. Das Ganze war ihr ziemlich peinlich und sie wusste nicht mehr, wie sie das Gespräch wieder in eine andere Richtung leiten sollte.
Michael verfolgte den Wortwechsel schmunzelnd und ergriff dann die Gelegenheit beim Schopfe. „Also, ich finde, eigentlich hat Max Recht. Nach so langer Zeit hier sind wir ja schon beinahe alle Freunde.“ Wieder einmal entspannte Michael die Situation mit einem lustigen Einwurf, und Stephanie musste lachen. „Ich heiße Michael“, er streckte ihr die Hand entgegen, „aber das weißt du ja sowieso.“ Stephanie gab sich geschlagen. „Ich hab’s irgendwo gelesen“, erwiderte sie zwinkernd und nahm die Hand, „und mein Name steht immer auf diesem Schildchen hier.“ Sie tippte auf das Namensschild an ihrem Kittel. „Falls ich’s mal vergessen sollte.“ Jetzt hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Stephanie fasste sich als Erste wieder. „So, und trotzdem müssen wir jetzt ein bisschen arbeiten. Würdet ihr mal fünf Minuten auf dem Flur warten, länger brauche ich hier nämlich nicht.“ Heidi sah auf die Uhr und meinte dann: „Eigentlich müssten wir uns auch langsam verabschieden.“ Michael bat sie allerdings, doch gleich noch kurz wiederzukommen. Heidi nickte und öffnete die Tür.
Stephanie war ein bisschen verunsichert, aber Michael rettete die Situation: „Was kann ich euch noch über mich erzählen, das ihr noch nicht wisst?“ „Ach, bestimmt eine ganze Menge.“ Jetzt hatte sie sich wieder gefangen. „Aber jetzt will ich eigentlich nur zwei kurze Antworten.“ Sie stellte ihm ihre Fragen, notierte sich die Informationen und schickte kurz darauf Max und Heidi wieder ins Zimmer. Bevor er die Tür schloss, drehte Max sich noch mal um und rief Stephanie hinterher: „Wir sehen uns ja dann am Mittwoch!“ Bevor sie etwas sagen konnte, fiel die Tür hinter Max ins Schloss, und Stephanie stand auf dem Flur und schüttelte nur den Kopf. „Raffinierter Kerl“, dachte sie. Max wusste genau, dass sie nicht zurückkommen würde, um abzusagen, das hatte sie schon durchschaut. Aber so schlecht war der Gedanke gar nicht mehr. Max und Heidi hatten plötzlich etwas Vertrautes, und sie selbst war ja nach wie vor auf der Suche nach einem neuen Freundeskreis. Wenn Michael sich mit ihnen so gut verstand, konnte das Ganze auch eine positive Seite haben.
In Gedanken vertieft, ging sie langsam zurück zum Stationszimmer. So ganz hatte sie noch nicht verdaut, was sie in der letzten Viertelstunde erlebt hatte. Heute Abend war ein längeres Telefonat mit Hamburg fällig.
* * *
„Ich will euch nicht mehr lange aufhalten, ihr habt ja wirklich schon euren halben Tag für mich geopfert“, begann Michael, als Max und Heidi das Zimmer wieder betraten. Heidi winkte ab. „Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es nicht an! Außerdem hat das mit opfern nun gar nichts zu tun!“ Michael lächelte sie dankbar an. Er atmete tief durch. „Können wir vielleicht noch zusammen beten?“ fragte er dann fast ein wenig schüchtern. Jetzt wurde Max ernst: „Natürlich!“ Er setzte sich auf die Bettkante. Heidi ließ sich auf der anderen Seite nieder, so dass sie einen kleinen Kreis bildeten. Ohne Umschweife begann Max, mit ihrem gemeinsamen Herrn im Himmel zu sprechen. Er dankte Gott dafür, dass Michael bei dem Unfall nichts Schlimmeres passiert war, und dafür, dass Britta im Hauskreis ein bisschen gegen die berufliche Schweigepflicht verstoßen hatte und von ihrem Patienten erzählt hatte. Michael nickte nur dazu. Dann bat Heidi Gott um seine ganz spürbare Nähe für Michael, um schnelle und vollständige Heilung des Beines und um Kraft, die Situation noch auszuhalten, so lange es nötig war. „Danke, Vater, dass du deine Kinder bewahrst und liebst und uns auch zusammengeführt hast“, schloss sie. Michael konnte nichts mehr sagen und kämpfte mit den Tränen. Wortlos legte Heidi eine Hand auf seine Schulter und Max sprach ihm Gottes besonderen Segen zu.
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