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„Das wurde ja auch Zeit“, war Janas einziger Kommentar, als Stephanie ihr die ganze Geschichte ausführlich mit allen Einzelheiten erzählt hatte und selbst immer noch erstaunt darüber war, dass sie zum ersten Mal in ihrem Berufsleben einen erwachsenen Patienten duzte. Nach ihrer Schilderung musste sogar Jana zugeben, dass so ein frommer Kreis manchmal anscheinend doch ganz gute Ideen hatte. Dass man sich in einem fremden Ort während eines wochenlangen Krankenhausaufenthaltes einsam fühlte, konnte sie gut nachvollziehen. Sie gab ihrer Freundin Recht, wenn sie meinte, dass dieser Nachmittag für Michael endlich mal ein wirklich positives Erlebnis gewesen war. „Außer, dass er dich getroffen hat, natürlich.“ „Ach, hör auf. Wir verstehen uns einfach nur gut. Mehr wird das wahrscheinlich nie.“ Jana sah das ganz anders, aber sie gehörte von jeher zu den Menschen, die gerne ein bisschen nachhalfen, wenn sie merkte, dass zwei andere sich beschnupperten. „Gut, dass du weit weg bist“, musste sie sich für ihre Vorschläge dann auch gleich darauf anhören, „so kannst du wenigstens nicht dazwischen funken.“ Jana protestierte, das würde sie ja nie tun, was Stephanie wiederum mit einem entsprechenden Kommentar belegte. Das war die übliche Weise der Freundinnen, sich zu unterhalten. Typisch norddeutsch. Hier im Süden hatte Stephanie schon festgestellt, dass sie mit ihrer manchmal etwas burschikosen norddeutschen Art vorsichtig sein musste. Nicht jeder verstand das als Scherz oder sogar Normalität, was sie ganz selbstverständlich so meinte. Aber mit ihrer besten Freundin konnte sie nach Herzenslust reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war.
„Und was gibt’s Neues in HH?“ gab sie dem Gespräch schließlich eine ganz andere Wende. Als Jana vom Teetrinken mit gemeinsamen Freunden erzählte und von dem ersten Inliner–Laufen in diesem Jahr an der Alster, stieg wieder Heimweh in Stephanie auf. Am liebsten hätte sie sich sofort ins Auto gesetzt, um ein oder zwei Wochen Urlaub im Norden zu machen. Doch das war nicht einfach so möglich, und es wäre bestimmt auch nicht gut, ausgerechnet in einer Heimweh–Stimmung nach Hamburg zu fahren. „Aber Ostern hab’ ich frei, da komm ich hoch!“ Sie bestellte ein Bett in Janas Schlafzimmer, denn sie wollte nicht bei ihren Eltern wohnen. Außerdem würde sie sonst sowieso nur irgendwann nach Mitternacht zum Schlafen dort auftauchen, und das würde ihre Mutter auch nicht so gerne sehen.
Dann lieber gleich bei Jana übernachten und die Eltern für einen oder zwei Nachmittage besuchen. Viel mehr Zeit würde nicht bleiben, denn gleich am Dienstag nach Ostern hatte sie wieder Dienst. Hoffentlich gab es noch Flüge am Abend des Gründonnerstag und am Ostermontag retour. Alles andere würde sich für die wenigen Tage nicht lohnen. Sie beschloss, gleich morgen im Reisebüro vorbeizuschauen. „Hätteste jetzt einen Computer, könnteste im Internet nachschauen und auch gleich buchen.“ Jana hatte wieder den Punkt gefunden. „Jaaaa“, bekam sie gedehnt zur Antwort, „ich werde sehen, was ich tun kann.“ Jana glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Hatte Steph eben eine leise Andeutung in Richtung Computeranschaffung gemacht? Sie sagte lieber nichts mehr, denn sie wusste, wenn sie jetzt zu enthusiastisch reagieren würde, würde sie eher das Gegenteil erreichen. Aber auf die leise Weise kämen sie dem Ziel vielleicht langsam näher.
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Schon am nächsten Nachmittag bekam Michael wieder Besuch – dieses Mal stellten sich Konrad, Kerstin und Timo vor, und sie hatten gleich noch eine Überraschung dabei. „Heidi hat gesagt, dass du zwar einen CD–Player hier hast, aber keine christlichen CDs. Vielleicht gefallen dir diese ja.“ Kerstin legte ihm 6 – 8 Scheiben auf den Nachttisch. „Du kannst sie behalten so lange du willst. Wenn du entlassen wirst, gibst du sie einfach Britta.“ Michael war begeistert. Gott sorgte wirklich für seine Kinder, auch, wenn er sie manchmal durch Durststrecken gehen ließ. Zwar hätte er sich natürlich niemals einen Unfall gewünscht, und auf die letzten Wochen hätte er auch gerne verzichtet, aber nun begann das Blatt, sich zu wenden. Er lernte Christen in dieser Region kennen – das würde sicherlich auch seine weiteren Urlaube hier beeinflussen. „Ihr seid so klasse!“ freute er sich dann. „Wenn ich das nächste Mal hier Urlaub mache, dann besuche ich euch mal an einem Mittwochabend.“ „Das will ich hoffen“, antwortete Konrad lachend.
Wieder verging die Zeit wie im Flug, und beim Abschied gab ihm Timo die Telefonnummer von Max und Heidi. „Das haben sie gestern einfach vergessen. Wenn du irgendwas brauchst ...“ „Zum Beispiel neue CDs“, unterbrach Konrad, „... oder auch einfach nur reden möchtest, dann ruf an! Das ist wirklich ernst gemeint.“ „Danke! Ja, das glaube ich euch.“ Genauso hatte er das Ehepaar eingeschätzt, dass sie mit solchen Angeboten keine Scherze machten. Er verabschiedete sich herzlich von drei neuen Freunden, und als er wieder alleine war, legte er eine CD in das Gerät, das ihm Florian gebracht hatte. Zwar hatte dieser ihm auch einige CDs dazu geliefert, aber die entsprachen nicht so ganz Michaels Musikgeschmack. Um den großen Freundschaftsdienst des Jungen zu würdigen, hatte er sich dennoch einige Stücke angehört und sich auch mit Florian darüber unterhalten. Der freute sich, dass seine Idee bei Michael so gut angekommen war, und seine Eltern staunten sehr, dass ihr Sohn auch nach dieser Zeitspanne noch nicht einmal darüber geklagt hatte, dass der CD–Spieler für ihn gerade nicht verfügbar war.
Florian schaute ab und zu bei Michael ‘rein, aber für einen Zwölfjährigen dauerten Krankenbesuche spätestens nach einer Viertelstunde eine Ewigkeit. Seine Eltern hatten das Haus voller Gäste, so dass sie es nur selten schafften, auf einen Sprung ins Krankenhaus zu kommen. Manchmal machte Christine einen kurzen Abstecher, wenn sie einkaufen ging, aber zu mehr als einem kurzen Hallo reichte es einfach nicht. Michael versicherte ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, und er verstand absolut, dass es den beiden kaum möglich war. Er war oft genug bei ihnen gewesen, um zu wissen, welche Arbeit ein Gästebetrieb in einem Privathaushalt machte.
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Punkt 20 Uhr trat Britta die Nachtwache an. Die übliche Übergaberoutine im Stationszimmer, dann war sie alleine. In den ersten Stunden gab es immer noch dies und das zu tun, für den Rest der Nacht hatte sie die Wahl zwischen fernsehen und lesen. Ein Buch hatte sie immer dabei, denn das Fernsehprogramm in der Nacht ließ meistens mehr als zu wünschen übrig. Heute jedoch war sie neugierig. Natürlich hatte sie schon mit Heidi telefoniert und wusste von der gelungenen Überraschung, aber Heidi erzählte auch, dass Michael auch über manche Dinge gesprochen hatte, die seelsorgerlichen Charakter hatten und die sie deshalb nicht weiter erzählen wollte. Das war eine Selbstverständlichkeit für Britta. Wenn er wollte, dass sie diese Dinge wusste, könnte er sie ihr selber erzählen. Sie öffnete die Tür zu Zimmer 23 und freute sich, dass der Zimmerkollege von Michael nicht in seinem Bett lag. Morgen Vormittag würde er sowieso entlassen werden. Michael Aschmann blätterte in einer Zeitschrift und hatte leise Musik laufen.
Britta lächelte. Das war also eine sehr gute Idee gewesen. Heidi hatte ihr erzählt, dass die drei Besucher heute für Musik gesorgt hatten. Als Michael sie kommen sah, legte er die Zeitschrift zur Seite. „Mensch, Britta, das war die beste Idee des Jahrhunderts!“ Er strahlte sie an. „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen.“ Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er mit Britta bisher noch per Sie war. „Entschuldigung – so weit waren wir ja noch gar nicht.“ Britta fand das überhaupt kein Problem. „Das wollte ich auch gerade vorschlagen. Alles andere wäre spätestens jetzt doch eh nur noch albern. Und überhaupt – irgendwie gehörst du jetzt ja zu uns.“ Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und er drückte sie fest. Dann erzählte er, wie sehr er sich über den Überraschungsbesuch am gestrigen Nachmittag gefreut hatte und wie gut ihm das Gespräch besonders mit Max und Heidi getan hatte. „Die beiden haben eine besondere Seelsorge-Gabe“, meinte er nachdenklich, „ich habe ihnen Dinge erzählt, über die ich so schnell mit niemandem sprechen würde – schon gar nicht mit Wildfremden.“ Britta konnte das nur bestätigen und ermutigte ihn, mit den beiden im Gespräch zu bleiben, so lange er noch hier war. „Manchmal spricht es sich mit Fremden leichter als mit Bekannten.“ Sie war überzeugt davon, dass es ihm sehr gut tun würde.
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