Sie registrierte ein kurzes Blitzen in Michaels Augen. „Und was hat sie gesagt?“ wollte dieser dann auch wissen. „Nicht viel, aber immerhin hat sie zugegeben, dass das mit dem, was sie sich bisher unter Kirche vorgestellt hatte, nicht viel gemeinsam hat. Ich hoffe, sie kommt wieder mit. Ist schon ein paar Wochen her, zwischendurch hatte sie Besuch, und nun muss sie die Kurve erst wieder kriegen.“ „Ich kann ja mal dafür beten“, bot Michael an. „Klar, gerne!“ antwortete Britta. „Wäre echt schön, wenn sie den Weg finden würde. Sie ist neu hier, und seit ein paar Wochen verstehen wir uns echt gut. Sie ist wirklich nett.“ „Stimmt“, konnte Michael sich nicht verkneifen, und Britta musste lachen. „Ich geh’ dann mal wieder“, meinte sie dann, „hier warten noch ein paar Leute auf mich.“ „Danke für den Kuchen!“ rief Michael ihr nach, als sie die Tür schloss. „Und danke für die letzten Minuten“, flüsterte er an einen anderen Adressaten.
Stephanie saß auf dem Balkon und genoss die Frühlingssonne. Oben auf den Bergen lag immer noch Schnee, aber im Tal hatte sich der Frühling durchgesetzt, die Krokusse leuchteten in den Gärten und auch die ersten Osterglocken steckten schon die Köpfe aus der Erde. Wenn sie den Einheimischen glaubte, konnte sich das alles noch einmal ganz schnell wieder ändern – eine kalte Nacht und Wolken am Himmel, und alles wäre wieder weiß. „Macht nichts“, dachte sie sich, „das geht dann bestimmt so schnell wieder wie es gekommen ist.“ Im Moment konnte sie sich aber kaum vorstellen, dass es noch einmal schneien würde. Hier auf dem geschützten Balkon in der Nachmittagssonne ließ es sich schon im T-Shirt aushalten. Auf dem kleinen Tisch neben ihr stand eine Tasse Tee. Freie Tage waren etwas Schönes, erst recht bei diesem Wetter!
Stephanie war so in ein Buch vertieft, dass die das Telefon erst nach dem dritten Läuten hörte. Sie sprang auf und konnte den Anruf gerade noch entgegennehmen, bevor sich ihr technischer Mitarbeiter einschaltete. Britta war am anderen Ende. Am Nachmittag war es ruhig auf der Station, die meisten Patienten hatten Besuch, und da blieb schon mal Zeit für ein kurzes Telefonat. Stephanie hörte eine Weile zu, was Britta sagte. „Nee, Britta, heute wirklich nicht“, antwortete sie dann auf deren Vorschlag, sie wieder mal mit zum Hauskreis zu nehmen. „Die anderen fragen schon nach dir“, erzählte Britta ihr, aber Stephanie ließ sich nicht überreden. „Vielleicht nächste Woche.“ „Ich nehme dich beim Wort, darauf kannst du dich verlassen!“ Stephanie zweifelte keinen Moment daran. „Ich fürchte auch …“ Britta grunzte etwas Unverständliches, und dann musste sie das Gespräch beenden, weil eine Klingel summte. Sie ging in das Zimmer, über dem eine Lampe aufleuchtete.
„Super schönes Wetter!“ Britta stand am Fenster im Flur und ärgerte sich, dass sie arbeiten musste. Hoffentlich würde sich das Wetter bis zum Wochenende halten. Dann hatte sie frei und könnte Stephanie bestimmt wieder zu einem kleinen Ausflug mit dem Fahrrad einladen. Sie hatten schon festgestellt, dass sie beide gerne mit dem Rad unterwegs waren, und nun kam die richtige Zeit dafür. Britta kannte eine ganze Reihe guter Wege zum Fahren. Noch waren nicht alle wieder befahrbar, aber das würde von Tag zu Tag besser werden. Sie würde Stephanie so gerne auch einmal zum Gottesdienst einladen, aber ein inneres Gespür sagte ihr, dass es dazu noch zu früh war. Erst einmal würde sie sie nächste Woche wieder zum Hauskreis einladen und sich dabei auf Stephanies Worte von vorhin berufen.
Seitdem sie die Freundin zum ersten Mal mitgenommen hatte, betete sie für sie, und jetzt hatte sie noch einen Mitstreiter gefunden. Ob der nette Herr Aschmann noch einen anderen Grund hatte, für Stephanie zu beten? Sie würde nicht beschwören, dass es nicht so war. Hier begannen sich ein paar Puzzleteile zusammenzusetzen. Und wenn Stephanie dem auch nicht abgeneigt wäre, wäre das für sie bestimmt ein Anlass, sich doch einmal genauer mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Britta lächelte in sich hinein. Sie würde ein wenig forschen – und rein vom Typ her konnte sie sich die beiden gut zusammen vorstellen. „Let’s pray!“ sagte sie laut und erntete einen erstaunten Blick einer Patientin, die auf dem Flur spazieren ging. Sie musste lachen, zuckte mit den Schultern und fügte dann hinzu: „Ist doch das Beste, das wir tun können, oder!?“ Die Patientin sah sie nur fragend an, antwortete aber nichts darauf. Vielleicht verstand sie kein Englisch.
* * *
Die Nachbarn von Max und Heidi wussten wieder genau, dass Mittwochabend war. Der Gesang aus dem kleinen Reihenhaus war nicht zu überhören, stellte Britta fest, als sie aus dem Auto stieg. Die Haustür war nur angelehnt, und das war gut so, denn eine Klingel hätte niemand dort drinnen gehört. Britta hängte ihre Jacke an die Garderobe und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Sie winkte einmal in die Runde und setzte sich auf den Fußboden, wo schon drei andere junge Leute hockten. Jemand schob ihr ein offenes Liederbuch rüber, doch das Lied war gerade zu Ende. „Hi Britta! Gibt’s was Neues?“ „Ja, ich hab’ mich heute mit einem Patienten unterhalten, der schon 5 Wochen bei uns liegt.“ „... und so lange habt ihr nicht miteinander geredet?“ unterbrach Johannes grinsend. Britta warf das Liederbuch nach ihm. „Nein, aber ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich heute erst mitgekriegt habe, dass er Christ ist. Und er wusste es von mir natürlich auch nicht.“ Sie erzählte von Michael und dem Gespräch, auch von Stephanies Frage nach der Bibel für diesen Patienten, und fügte zum Schluss hinzu: „Ich fänd’s gut, wenn wir für beide beten würden. Für Stephanie sowieso, dass sie wieder kommt und Jesus kennen lernt, und für den Patienten können wir auch echt beten. Er ist schon recht alleine hier, und ein bisschen mehr Heilung könnte er auch gebrauchen.“ Die Hauskreisler nickten zustimmend, und jemand meinte plötzlich: „Wir können ihn doch mal besuchen!“ Britta war überrascht. „Hey, das ist wirklich eine gute Idee. Vielleicht nicht gleich alle auf einmal“, sie grinste, „aber er freut sich bestimmt, wenn er Besuch bekommt – dazu christlichen. Das vermisst er nämlich besonders, hat er heute gesagt.“ Sie nannte Namen und Zimmernummer des Patienten und freute sich über diesen Vorschlag.
Bestimmt würde Herrn Aschmann das gut tun. „Es ist das Bett am Fenster.“ Max machte direkt Nägel mit Köpfen. „Okay, ich habe Urlaub und darum Zeit. Heidi, was hältst du davon, wenn wir den Anfang machen?“ Heidi stimmte zu. „Klar, gleich morgen Nachmittag. Bist du dann auch da, Britta?“ „Nein, morgen habe ich ganz frei. Und danach Nachtdienst. Aber ich glaube, Stephanie hat Spätdienst. Vielleicht seht ihr sie ja.“ „Dann hätten wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, feixte Max, der sich in Gedanken schon vorstellte, wie er Stephanie völlig selbstverständlich in den nächsten Hauskreis einplanen würde, ohne dass sie noch nein sagen konnte. Heidi erriet die Gedanken ihres Mannes und mahnte ihn zur Vorsicht: „Dräng sie nicht in die Ecke, dann kommt sie gar nicht mehr.“ Max versicherte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, er würde schon mit der notwendigen Sanftmut vorgehen. Er streichelte Heidis Kopf, als wäre er ein kleines Tier. Die anderen schütteten sich aus vor Lachen.
* * *
Michael saß im Bett und löste Kreuzworträtsel. Florian Mooser versorgte ihn treu und regelmäßig mit entsprechenden Zeitschriften. Draußen strahlte die Frühlingssonne, und er hatte einen wunderschönen Blick auf die umliegende Berglandschaft. Die höheren Gipfel waren noch weiß gezuckert, aber dort, wo er noch vor wenigen Wochen Ski gelaufen war, war jetzt kein Schnee mehr zu sehen. Sein Zimmernachbar war – wie schon fast üblich – irgendwo unterwegs; er kam nur noch zum Essen und Schlafen ins Zimmer. Als es an der Tür klopfte, rechnete Michael damit, dass ein Besucher kurz den Kopf zur Tür ‘reinstecken und dann wieder gehen würde. Aber der junge Mann, der die Tür öffnete, betrat zielstrebig das Zimmer. Die Frau hinter ihm schloss die Tür von innen, und beide kamen direkt auf ihn zu. „Hallo, ich bin der Max. Du bist bestimmt Michael.“ Dieser starrte Max mit großen Augen an, besann sich dann und bestätigte die Annahme. „Das ist Heidi, die beste Ehefrau aller Zeiten.“ Max stellte seine Begleiterin in Anlehnung an einen bekannten Schriftsteller vor.
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