An einer Seite des Raums war eine kleine Türe. Layla konnte eine kleine Treppe erkennen, die nach oben führte. Offenbar war dort sein Schlafraum. Daneben war eine weitere Türe, die offen stand und die offensichtlich zu dem Unterrichtsraum des Masters führte.
An der gegenüberliegenden Wand war eine weitere kleine Türe. Dort kam ein verlockender Duft her, der Laylas Magen zu einem lauten Knurren veranlasste. Es war offensichtlich die Küche. An den Geräuschen konnte Layla hören, dass jemand dort offenbar etwas kochte. Das kam Layla seltsam vor, da diese Person doch die Explosion gehört haben musste. Warum hatte sie dann keine Hilfe geholt?
Master Bernau musste Laylas Magenknurren gehört haben, denn er verbeugte sich vor den beiden Mädchen und sagte förmlich:
„Das Essen müsste gleich fertig sein. Meine Haushälterin hat sicherlich wieder viel zu viel zubereitet. Sie kann sich niemals daran gewöhnen, dass ich nicht viel zu mir nehme. Darf ich die beiden jungen Damen zum Essen einladen?“
Layla sah Elisabeth an, die glücklich nickte. Dann nickte auch Layla. Der große Mann lächelte, dann ging er zur Türe der Küche und machte ein Zeichen mit seiner rechten Hand. Layla hörte ein paar seltsame Geräusche, als würde ein Holz auf einen Stein schlagen, dann betrat die Haushälterin den Raum und Layla wurde auf den ersten Blick klar, warum die Frau keine Hilfe geholt hatte.
Die Frau war übersät mit Narben. Schreckliche Narben, die nur notdürftig verheilt waren. Eine besonders große Narbe zog sich vom linken Auge über die ganze linke Wange bis zum Halsansatz. Das linke Auge war blind. Ihrer gebückten Haltung entnahm Layla, dass sie wohl auch einen Schaden an der Wirbelsäule hatte. Trotzdem bewegte sie sich mit einer anmutigen Eleganz, die ihr Layla gar nicht zugetraut hätte.
Die Frau war sehr klein. Nur etwa 1,35 – 1,40 Meter und sehr, sehr dünn. Sie sah fast aus, wie ein Gespenst. Tiefes Mitgefühl regte sich in Layla. Der Gelehrte, der wie ein Riese neben der armen Frau wirkte, machte dieser ein Zeichen, dass Layla und Elisabeth zum Essen bleiben. Die Frau machte ein Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte und humpelte in die Küche zurück. Master Bernau machte ein einladendes Zeichen, worauf die beiden jungen Frauen in die Küche eintraten. Die war fast genau so lang, wie der Wohnraum, aber deutlich schmaler. Sie war offenbar auch das Speisezimmer. An einem großen Herd war ein offenes Feuer auf dem die Frau ein riesiges Stück Fleisch briet. Am Rand des Feuers war ein Topf aus dem Dampf strömte. Es roch nach Kartoffeln. Durch das Feuer war es fast unerträglich heiß in dem Raum.
In der Mitte des Raumes war ein großer, rechteckiger Tisch, an dem ohne weiteres acht Leute gepasst hätten. An den beiden langen Seiten des Tisches war jeweils eine Sitzbank ohne Lehne.
Die kleine Frau nahm mühsam drei Gedecke von einem Regal und legte sie auf den Tisch. Dann ging sie wieder zurück und holte eine dickbauchige Flasche aus einem anderen Fach, die sie ebenfalls auf den Tisch stellte. Master Bernau nahm in der Zwischenzeit den Topf mit den Kartoffeln und stellte ihn auf eine spezielle Vorrichtung im Tisch. Dann ging er zurück und nahm mit einer speziellen Zange das Fleisch vom Feuer, das er auf eine circa 30 cm große, ovale Holzplatte legte. Dann trug er diese ebenfalls an den Tisch. Er forderte die beiden Mädchen mit einer Handbewegung zum Sitzen auf. Dann begann er das Fleisch mit einem riesige unförmigen, offensichtlich uralten, aber nichtsdestotrotz sehr scharfen Messer in Scheiben zu schneiden. Er legte jeweils eine Scheibe auf jeden Teller. Dann nahm er einen großen Holzlöffel und legte noch jeweils eine Kartoffel dazu. Da es kein Besteck gab, vermutete Layla, dass mit den Fingern gegessen wurde, doch da irrte sie sich. Sowohl Master Bernau, als auch Elisabeth nahmen aus ihren Taschen jeweils eine grobe Gabel und ein dünnes, total krummes Messer. Irritiert sah Layla die beiden an. Master Bernau verstand den Blick und begann zu lachen. Dann ging er zurück in die Wohnstube und kam kurz später mit einer weiteren Gabel zurück, die er Layla reichte. Er lächelte und sagte:
„Das ist meine alte Essgabel. Ein Schneidemessen habe ich nicht, aber ich kann Euch das Fleisch schneiden, falls Ihr dies wünscht!“
Layla bedankte sich höflich, dann nahm sie aber ihr eigenes modernes Schweizer Taschenmesser hervor. Sie klappte es auf und begann das Fleisch zu schneiden. Da Layla sorgsam darauf achtete, dass die Klinge immer scharf geschliffen war, schnitt es durch das Fleisch, wie Butter. Sie stach es auf die Gabel und steckte sich das Fleisch in den Mund. Dann erst sah sie die verdutzten Gesichter von Master Berau und Elisabeth. Die hatten solch ein Messer natürlich noch nie gesehen. Layla lächelte und reichte es Master Bernau, der es mit wissenschaftlicher Akribie untersucht. Er probierte es sogar an seinem eigenen Fleisch und rief überrascht auf, als es viel leichter durch das Fleisch schnitt, als er erwartet. Daraufhin gab er es Layla zurück und sagte:
„Ihr seid voller Überraschungen, Maid Layla! Ich freue mich, dass ich Euch kennen lernen durfte!“
Layla erwiderte das Lob. Layla reichte das Messer gleich an Elisabeth weiter, die es kaum noch erwarten konnte, es in die Hände zu bekommen. Auch sie untersuchte es ausgiebig und Layla musste sie zweimal warnen, sich nicht in die Finger zu schneiden. Erst nach mehr als einer Minute gab sie es Layla zurück, die sich daraufhin endlich über ihr Mahl hermachen konnte.
Einer der größten Nachteile ihres Werwolf Daseins war der deutlich erhöhte Energiebedarf. Deshalb hatte Layla auch permanent Hunger, und wenn eine gewisse Zeit zwischen den Mahlzeiten lag, wie es momentan der Fall war, da hatte Layla richtiggehend Magenkrämpfe vor Hunger. Dann konnte sie sich auch nicht mehr beherrschen und aß mit einer fast unglaublichen Geschwindigkeit. So kam es, dass nach nicht einmal zehn Minuten der komplette Braten und alle Kartoffeln restlos leer waren. Master Bernau schüttelte darüber nur den Kopf, wobei seine Augen lustig blinzeln. Elisabeth lachte, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und sagte, als sie wieder einmal Luft bekam:
„Layla, Du bist nur so groß, wie eine Maid, hast aber ein Hunger, wie ein großer Bär!“
Daraufhin musste auch Layla lachen. Das erste Mal, seit sie in diese seltsame Welt gekommen war, fühlte sich Layla entspannt. Sie hatte ganz offensichtlich zwei Freunde gefunden, die bereit waren, ihr zu helfen.
Master Bernau gab seiner Haushälterin ein Zeichen, dass sie den Tisch abräumen konnte. Unschlüssig blieb Layla sitzen. Sie hatte keine Ahnung, ob von ihr erwartet wurde, der armen Frau zu helfen, aber als sich auch Elisabeth nicht rührte, blieb auch sie sitzen. Elisabeth sah die Frau mit traurigen Augen an. Ganz offensichtlich wusste sie, was der Frau passiert war. Layla wollte nicht neugierig erscheinen und getraute sich deshalb nicht danach zu fragen, aber Master Bernau hatte ihren Blick bemerkt und sagte:
„Dies passiert, wenn man in die Fänge der Bären gerät. Ihr Mann hat es törichterweise gewagt, das scharlachrote Teufelskraut zu pflücken, das nur den Bären vorbehalten ist. Daraufhin haben die Bären nicht nur ihn in Stücke gerissen, sondern auch seine komplette Familie. Die einzige, die diese Untat überlebt hat, ist die arme Johanna.“
In Layla stieg wieder diese unbändige Wut auf. Diese Bären waren schlimmer als Zahnweh. Aber Layla war auch klar, dass sie furchtbar auspassen musste. Diese Bären waren hochgefährlich, wie sie aus eigener Erfahrung nur zu gut wusste. Es war wohl für das erste wesentlich besser, jede Konfrontation mit den Bären zu vermeiden, aber eines Tages, auch das war Layla klar, eines Tages würde es wohl zu Kampf kommen. Und ob den Layla unbeschadet überstehen würde, das war mehr als fraglich. Bei der ersten Konfrontation hatte sie großes Glück gehabt, dass sie die Bären hatte überraschen können. Das würde den Bären mit Sicherheit nicht noch einmal passieren. Des Weiteren wusste Layla immer noch nicht, wer dieser Obermagier war. Wie gefährlich war er? Layla vermutete, dass er sehr gefährlich war, wahrscheinlich noch gefährlicher, als die Bären.
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