Michael Chabon - Das letzte Rätsel

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Der 89-jährige Sherlock Holmes, von dem die Dorfbewohner zu wissen glauben, dass er einst ein berühmter Detektiv war, wohnt zurückgezogen in der englischen Provinz, um sich der Bienenzucht zu widmen. Doch sein beschauliches Leben wird gestört, als Linus Steinman im Dorf auftaucht, neun Jahre alt und stumm, der mit seinem einzigen Begleiter, einem Graupapagei, Hitlerdeutschland entkommen konnte. Doch welche Bedeutung haben die Zahlen, die der Papagei aufsagt? Ist es eine geheime SS-Chiffre? Oder der Code zu einem Schweizer Bankkonto? Als ein Mord geschieht, sieht sich der alte Meisterdetektiv vor ein schier unlösbares letztes Rätsel gestellt. Nach und nach entfaltet sich die wahre Geschichte des kleinen Jungen und seines Papageis in dieser Hommage an die großen klassischen Kriminalromanautoren. Eine meisterliche Erzählung vom Pulitzer-Preisträger Michael Chabon, die alle Liebhaber des klassischen Krimis begeistern wird.
»Auf gleicher Höhe mit den dichtesten Passagen aus Chabons wundervollem letzten Roman.« »Einer der besten amerikanischen Romane in diesem Herbst … das Experiment eines Meisters.« »Ein tiefsinniges Vergügen.« »Eine liebevolle Hommage an ein Genre.« »Eine unvergessliche Erzählung.« »Genau das, was sich Chabon-Fans wünschen: ein kraftvolles und melancholisches Buch, meisterlich ausgeführt.« Über den Autor: Michael Chabon wurde 1963 in Washington D. C. geboren und wuchs in Columbia, Maryland, auf. Seine Arbeiten erschienen im New Yorker, in Harper’s, GQ, im Esquire und Playboy und in zahlreichen Anthologien. Für seinen Roman »Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay« erhielt er 2001 den Pulitzer-Preis. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Berkeley.
Andrea Fischer, geboren 1969, lebt seit 1989 in Düsseldorf und übersetzt dort aus dem britischen und amerikanischen Englisch, u. a. Stephen King, Dennis Lehane, Peter Robinson. 

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Zur Erinnerung an Amanda Davis,

die diese Zeilen als Erste las.

Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

1

Ein Junge mit einem Papagei auf der Schulter lief verträumt die Eisenbahnschienen entlang und schwenkte dabei ein Gänseblümchen. Mit jedem Schritt zog er die Fußspitzen durch das Gleisbett, als vermesse er die Strecke mit einer in den Schotter gezogenen Spur seiner Schuhkappen. Es war Hochsommer, und irgendetwas an dem schwarzen Schopf und dem blassen Gesicht des Jungen vor dem Hügelband, das sich in der Ferne ausbreitete, irgendetwas an dem tanzenden weißen Auge des Gänseblümchens, an den knochigen Knien in der kurzen Hose, an der aufrechten Haltung des hübschen Graupapageis mit seiner wildroten Schwanzfeder, irgendetwas fesselte den alten Mann, der die beiden vorbeigehen sah. Fesselte ihn oder weckte seinen Spürsinn – eine einst in ganz Europa gerühmte Gabe – für eine verheißungsvolle Eigentümlichkeit.

Der alte Mann ließ die jüngste Ausgabe der britischen Bienenzeitschrift auf die Shetlanddecke sinken, die über seine ebenfalls knochigen, aber keineswegs ansprechenden Knie gebreitet war, und schob sein längliches Gesicht näher an die Fensterscheibe. Die Gleise – eine Nebenstrecke der Linie Brighton-Eastbourne, die Ende der zwanziger Jahre beim Ausbau der Southern Railway elektrifiziert worden war – verliefen hundert Meter nördlich des Cottages zwischen den Betonpfeilern eines Drahtzauns an einer Böschung entlang. Das Glas, durch das der alte Mann spähte, war verzogen und voller Bläschen und Riffel, die die Außenwelt verzerrten und neckten. Doch selbst durch die Vexierscheibe betrachtet, kam es dem alten Mann so vor, als habe er noch nie zwei Wesen erblickt, die sich einen sonnigen Sommernachmittag genügsamer geteilt hätten und inniger miteinander verbunden gewesen wären als diese beiden.

Ebenso sehr beeindruckte ihn ihr offenkundiges Schweigen. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass ein Graupapagei – eine für ihre Geschwätzigkeit berüchtigte Art – und ein neun- oder zehnjähriger Junge nicht zu jedem denkbaren Zeitpunkt sprechen würden, zumindest einer von ihnen. Noch eine Eigentümlichkeit. Was sie jedoch verhieß, das konnte der alte Mann – gleichwohl er einst durch eine lange, brillante Reihe von Schlussfolgerungen aus unwahrscheinlichen Faktenkombinationen zu Ruhm und Ansehen gelangt war – nicht einmal ansatzweise erahnen.

Als der Junge in rund hundert Meter Entfernung fast auf einer Linie mit dem Fenster des alten Mannes war, blieb er stehen. Er drehte dem Alten seinen schmalen Rücken zu, als spürte er dessen Blick auf sich. Sonderbar verstohlen sah der Papagei zuerst nach Osten, dann nach Westen. Der Junge hatte etwas vor. Das Hochziehen der Schultern, das prüfende Beugen der Knie … Es war eine geheimnisvolle Verrichtung, weit zurückliegend, und dennoch tief vertraut – ja – das abgenutzte Uhrwerk setzte ein; der saitenlose Steinway erklang: die Stromschiene!

Selbst an einem heißen Nachmittag wie diesem, wenn Kälte und Feuchtigkeit nicht an den Scharnieren seines Knochengerüstes nagten, konnte es, gewissenhaft ausgeführt, ein längeres Unterfangen werden, sich aus dem Sessel zu erheben, dem für einen alten Junggesellen typischen Durcheinander von sich stets neu findenden Hindernissen auszuweichen, die das Durchqueren seines Wohnzimmers tückisch machten – Zeitungen von höherer und minderer Qualität, Hosen, Gläser mit Heilsalbe und Leberpillen, akademische Jahres- und Vierteljahresschriften, Teller voller Krümel –, und die Tür zur Außenwelt zu öffnen. Tatsächlich war die entmutigende Aussicht, die Strecke vom Sessel zur Türschwelle bewältigen zu müssen, ein Grund für seinen mangelnden Umgang mit der Welt, selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie vorsichtig den Türklopfer in der feindseligen Form einer gewaltigen Apis dorsata aus Messing betätigte und Einlass begehrte. Bei neun von zehn Besuchern blieb der alte Mann sitzen, lauschte dem nachdenklichen Gebrummel und Genestel an der Tür und rief sich in Erinnerung, dass nur noch wenige lebten, für die er das Risiko einzugehen bereit war, mit dem Zeh seines Hausschuhs am Kaminläufer hängen zu bleiben und den kläglichen Rest seiner Existenz auf dem kalten Steinboden auszubreiten. Aber als der Junge mit dem Papagei auf der Schulter sich anschickte, von seiner eigenen bescheidenen Elektronenpfütze einen Bogen zu dem gewaltigen Strom geladener Teilchen zu schlagen, die das Elektrizitätswerk der Southern Railway bei Lewes durch die Stromschiene pumpte, hievte sich der alte Mann mit solch ungewohnter Behändigkeit aus dem Sessel, dass die Knochen seiner linken Hüfte ein beunruhigendes Knarzen von sich gaben. Schoßdecke und Zeitschrift rutschten zu Boden.

Kurz schwankte er, tastete bereits nach dem Türriegel, obwohl er noch den ganzen Raum zu durchqueren hatte. Sein strapaziertes Arteriensystem bemühte sich, das plötzlich zum Himmel strebende Hirn mit dem notwendigen Blut zu versorgen. Seine Ohren summten, die Knie schmerzten, die Füße stachen. Mit einer Hast, die einen angenehmen Schwindel in ihm auslöste, taumelte er zur Tür und riss sie auf, wobei er sich irgendwie am Nagel des rechten Zeigefingers verletzte.

»He, Junge!«, rief er, und selbst in seinen Ohren klang seine Stimme mürrisch, kurzatmig, ja sogar ein wenig irre. »Hör sofort auf damit!«

Der Junge drehte sich um. Mit einer Hand griff er sich an den Hosenschlitz. Mit der anderen warf er das Gänseblümchen fort. Der Papagei trippelte über die Schulter des Kindes zum Hinterkopf, als gehe er in Deckung.

»Warum, glaubst du wohl, ist da ein Zaun ?«, rief der alte Mann, dem durchaus bewusst war, dass der Schutzzaun seit Kriegsbeginn nicht instand gesetzt worden war und sich auf zehn Meilen in jeder Richtung in einem üblen Zustand befand. »Du lieber Himmel, du würdest gebraten wie ein Stint!« Als er durch seinen Vorgarten zu dem Jungen bei den Gleisen hinkte, nahm er keine Notiz von seinem wild pochenden Herzen. Besser gesagt, er nahm besorgt Notiz davon, wischte die Sorge jedoch mit einer unwirschen Bemerkung zur Seite. »Man stelle sich nur den Gestank vor!«

Die Wertgegenstände mit einer raschen Handbewegung sicher hinter dem Reißverschluss verstaut, der Blume entledigt, wartete der Junge regungslos. Er bot dem alten Mann ein Gesicht dar, so fahl und leer wie der Blechnapf eines Bettlers. Der alte Mann hörte das gedämpfte Scheppern der Milchkannen auf Satterlees Bauernhof eine Viertelmeile weiter, das aufgeregte Rascheln der Mehlschwalben unter seinem Dach und, wie stets, das unermüdliche Treiben in den Bienenstöcken. Der Junge trat von einem Bein aufs andere, als suche er nach einer passenden Erwiderung. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich war es der Papagei, der sprach.

»Zwei eins sieben fünf vier sieben drei« , sagte er auf Deutsch, mit weicher, sonderbar gehauchter Stimme und dem zarten Anflug eines Lispelns. Der Junge stand da, als lausche er der Stellungnahme des Papageis, sein Gesichtsausdruck wurde jedoch weder tiefgründiger noch komplexer. »Vier acht vier neun eins eins sieben.«

Der alte Mann blinzelte. Die deutschen Zahlen waren so unerwartet, so buchstäblich fremd, dass er sie im ersten Moment nur als Aneinanderreihung unheimlicher Laute registrierte, als primitive ornithologische Äußerung bar jeden Sinns.

»Bist du Deutscher?« , brachte der Alte schließlich in jener Sprache hervor, für einen Moment leicht verunsichert, ob er die Frage an den Jungen oder an den Papagei richten solle. Es war dreißig Jahre her, dass er zum letzten Mal Deutsch gesprochen hatte, und es kam ihm vor, als purzelten die Wörter von einem hohen Regal, ganz hinten in seinem Kopf.

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