"Was...?"
"Ich weiß es nicht. Sowas ist mir noch nie passiert."
"Keine Erklärung?"
"Im Moment nicht. Ich muss nachdenken."
Darauf stand er auf, stellte sich ans Fenster und sagte erst mal nichts. Weiter ging er zu einem Regal, nahm etwas heraus und ließ es nach einer kurzen Pause fallen. Kleine Holzstücke verteilten sich auf einem Tuch und es dauerte noch etwas, bis er wieder zu Mandy kam.
"Und? Lebt er noch oder nicht mehr?"
"Schwierig. Sehr schwierig. Lass mich versuchen, es dir zu erklären." Er setzte sich wieder ihr gegenüber.
"Du hast gemerkt, wie es ist, wenn die Person oder das Tier, welches man fragt, wirklich tot und tatsächlich bereit zum Gespräch ist."
Sie stimmte zu.
"Wenn es tot ist, aber nicht reden will, ist es anders. Nicht immer gleich, aber auch nicht so, wie gerade."
"Ja aber was dann?"
"Lebt das Geschöpf noch, bleibt alles schwarz. Keine Wand, nichts."
"Das war es aber auch nicht."
"Das ist ja das Problem. Sowas habe ich noch nie erlebt."
"Vielleicht ein Mittelding?" Kam ihr ins Gedächtnis.
"Wie soll das gehen? Wenn man halbtot ist, lebt man noch, also bliebe es schwarz."
"Wenn man dem Tot näher als dem Leben ist?"
"Das gleiche. Man lebt noch."
"Vielleicht ist er noch nicht so lange tot und es lag daran?"
"Nein, das ist auch anders. Ich habe mal die Verbindung zwischen einem Ehepaar hergestellt. Er war gerade ein paar Stunden tot und hatte kein Testament hinterlassen. Also kam sie in ihrer Not zu mir und da hat alles so geklappt, wie bei dir und Alf auch. Das heißt, daran kann es auch nicht liegen."
Stille.
Schließlich entschloss Mandy, das es vielleicht besser wäre, zu gehen. "Ich glaube, ich fahre nach Hause. Vielleicht fällt Ihnen dann etwas ein, was das eben war."
"Das wollte ich gerade vorschlagen. Ich muss nachdenken. Sollte ich eine Idee haben, melde ich mich bei dir. Okay?"
"Das wäre super. Vielen Dank."
Sie gaben sich die Hände und als Mandy draußen war, atmete sie tief durch.
***
Esperanza und Mandy saßen im Café. Noch immer hatte Mandy keine Erklärung dafür bekommen, was bei dem Versuch, Kontakt zu Sven aufzunehmen, vorgefallen war. Von ihren Erfahrungen hatte Mandy bisher noch nichts erzählt.
"Ich will ja nicht neugierig sein, aber du warst doch bei dem Medium, oder? Wie war es denn?"
Eigentlich war es eine einfache Frage, nur was Mandy darauf antworten sollte, wusste sie nicht. Sie war selber noch nicht soweit, dass sie sagen konnte, was irgendwie Sinn ergab und was vielleicht nur Einbildung war. Wie viel konnte sie ihrer Begleiterin tatsächlich zumuten, ohne als verrückt und unglaubwürdig zu erscheinen?
"Es war... interessant, aber auch sehr anstrengend."
"Was passiert da?"
"Man konzentriert sich auf seinem Atem und irgendwann hast du das Gefühl, in eine andere Welt abzudriften. So, als wärest du in Trance."
"Und dann?"
Mandy zuckte mit den Schultern. "Kommen Erinnerungen und Bilder vor. Wie in einem Traum läuft das ab"
"Und? Glaubst du das, was du gesehen hast?"
Die Journalistin lächelte: "Ich sagte ja, wie im Traum." Und zwinkerte ihr zu.
"Wundert mich nicht. Also Schwachsinn."
Darauf bedurfte es keine weitere Erklärung und das Thema war beendet. Bewusst hatte Mandy nichts weiter erzählt und der Jüngeren einfach zugestimmt.
"Dir scheint es aber etwas besser zu gehen, Esperanza. Oder täuscht der Eindruck?"
"Ach weißt du, die neue Therapeutin hilft mir wirklich. Aber auch, dass du mich ablenkst, macht vieles leichter. So denke ich nicht immer an ihn."
Einerseits freute sie sich darüber, dass sie ihr helfen konnte, aber dass sie angab, weniger an ihren Jungen zu denken, schmerzte sie. "Hast du denn ab und zu noch den Eindruck, dass er bei dir ist, wie damals im Steinbruch?"
"Ja, abends bei Gewitter oder wenn es stürmisch ist, glaube ich, ihn zu sehen. Aber es ist anders, als damals."
"Wie anders?"
"Naja, er ruft nicht mehr nach mir, schaut mich stumm an. Ihn umgibt dann immer so ein ein gelblich-silbernes Licht. Aber er sieht traurig aus und ich habe dann immer den Eindruck, dass er zwar zu mir will, ihn aber etwas festhält und ihn daran hindert."
Die Aussage erinnerte sie an das, was sie vor kurzem erlebt hatte. "Hast du mal ein Bild von ihm? Ich würde mir gerne eines ansehen."
Etwas erstaunt sah Esperanza auf, stimmte dann aber zu: "Wenn ich dran denke, bringe ich mal eines mit. Er hat viel gemalt."
Sie wusste nicht, was sie sich davon erhoffte und wie sie darauf kam, aber war auch erleichtert, dass Esperanza ihr deswegen keinen Ärger machte.
"Was hast du denn damit vor?", wurde sie gefragt.
"Keine Ahnung. Vielleicht, mich einfach daran erfreuen, dass er Spaß am malen hatte."
Eine kurze Pause des Schweigens trat ein.
"Es ist seltsam. Wir kannten uns nicht und nur, weil ich um meinen Jungen im Steinbruch getrauert habe und du gerade da warst, haben wir uns getroffen. Du hast mir bisher mehr geholfen, als so manch andere. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass uns etwas verbindet."
"Mir geht es ähnlich. Als ich damals ziellos umher gefahren bin und die letzten Orte der Verschwundenen aufgesucht habe, empfand ich an Svens letztem Ort etwas, was ich vielleicht auch als Verbundenheit zu euch gedeutet habe. Weißt du, ich habe auch oft den Eindruck, dass ich ihn irgendwo sehe oder sogar höre. Womöglich gibt es wirklich etwas, was uns verbindet, nur wir können es nicht erklären."
Als die Bedienung zu ihnen kam und einen Kakao abstellte, sahen sich die beiden Frauen an. Esperanza war diejenige, die reagierte: "Wir hatten aber nichts bestellt."
"Aber ein kleiner Junge kam doch eben zu mir und sagte, ich sollte doch bitte einen Kakao zu Ihnen bringen. Er würde gleich nachkommen."
"Was für ein Junge?" erkundigte sich nun Mandy.
"Er war ganz aufgeregt, hat auch nur bestellt und ist dann noch mal kurz raus.", war die Antwort
"Ah... okay. Danke." Daraufhin sah Esperanza irritiert zu Mandy.
Erst als die verunsicherte Bedienung außer Hörweite war, erkundigte sich Svens Mutter.
"Was ist? Weißt du etwas, was ich nicht weiß? Sven ist tot, er kann nicht bestellt haben, außerdem hat er sich früher immer davor gedrückt."
"Ich weiß gar nichts... nur, dass ich seit einiger Zeit vieles nicht mehr verstehe."
Nachdenklich tranken beide ihren Kaffee aus, aber keine ließ den Kakao aus den Augen. Plötzlich kippte die Tasse um und der noch dampfende Inhalt verbreitet sich über die weißen Tischdecke. Geschockt sahen sich die Frauen an und als beide dann ein kindliches "Entschuldigung" hörten, aber nichts entdeckten, sprang Esperanza auf und rannte weinend aus dem Café. Mandy schaute ihr noch hinterher, kümmerte sich dann um den ausgelaufenen Kakao, zahlte und folgte ihrer Bekannten.
***
Mandy fand Esperanza bei einem Brunnen. Diese saß auf einem Randstein und starrte in das plätschernde Wasser. Sie sah kurz auf, widmete sich dann aber wieder dem Nass."Geht's wieder?", erkundigte sich Mandy.
"Ich kriege zu viel. So langsam glaube ich, dass ich verrückt werde und durchdrehe. Überall sehe und höre ich Sven, aber er ist nicht da!"
Mandy holte tief Luft und entschloss sich zu einem weiteren Schritt: "Ich muss dir was sagen. Nicht nur du siehst und hörst ihn, auch ich. Ich hatte dir erzählt, dass ich die Orte angefahren habe. Das war kurz bevor wir uns kennen gelernt haben. Auf dem Rückweg hatte ich einen Autounfall. Offiziell war es ein Wildunfall. So sah es für die Polizei auch aus. Das Reh lag noch am Straßenrand. Allerdings habe ich einen Jungen überfahren. Vielleicht eher seinen Schatten, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall stieg ich aus und sah nach ihm. Es war definitiv ein Junge, der so aussah wie Sven. Als ich ihm helfen wollte, wurde ich bewusstlos und erst als ein LKW-Fahrer sich um mich kümmerte, kam ich wieder zu mir. Als ich dann nach dem Kind sehen wollte, lag da das Tier. Damit fing alles bei mir an."
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