Die Zeichnungen verfolgten sie und bewegten sich, wie in einem Stummfilm. Das Kind hing an den Schnüren vor dem Auto, dass sich langsam bewegte und es schließlich überrollte, während kurze Zeit später die Blume auf dem Auto zu wachsen schien. Der überfahrene Körper wurde an den Fäden wie eine Marionette hochgezogen und schwebte dann auf das Dach des Hauses. Eine Frau schaute aus dem Fenster, sie war traurig. Schließlich wuchs auch da die Blume auf dem Dach. Als das Kind wieder über allem schwebte, tanzten die anderen Gestalten um es herum, so als würden sie ein Ritual vollführen. Auch hier war das Pflänzchen vorhanden. In den kleinen Händen sah es so aus, als wäre das noch alles, was es hatte und verkrampft festhielt, um den kleinen Schatz nicht zu verlieren.
Eine kindliche Stimme übertönte ihren Wecker: "Hilf mir!!" Schweißgebadet erhob sich Mandy und wie so oft schaute sie sich suchend um, sah aber niemanden, von dem der Ruf gekommen sein könnte. Alles, was ihr ins Auge fiel, war die violette Blume... die sie eigentlich in der Küche platziert hatte.
***
Mandy war fast froh, dass sie aufstehen konnte, obwohl sie sich wie gerädert fühlte. Schweren Schrittes ging sie ins Bad und hoffte, dass es ihr nach einer kalten Dusche zumindest etwas besser ging. Schnell stellte sie jedoch fest, dass ihre Hoffnung vergebens war, sie weder einen klareren Kopf bekam und noch wacher wurde.
Ihr Frühstück verlief ähnlich. Zum einen brachte sie kaum einen Bissen runter und zum anderen machte sie diese Ruhe nur noch nervöser. Auch, als sie das Radio einschaltete, wurde es nicht besser. So lief sie schließlich wie ein unruhiger Tiger im Käfig umher, hielt ihre Kaffeetasse weiter in der Hand und schaute mal da und dann wieder woanders nach, ohne genau zu wissen, was sie suchte. Als sie an die Stelle kam, an der eigentlich das Glas mit der Blume stehen sollte, fand sie nur einen kleinen Brocken Basalt. Instinktiv wusste sie, wo er her kam: Aus dem Steinbruch in dem sie auf Esperanza gestoßen war. Kurz dachte sie darüber nach, diese anzurufen und sich zu erkundigen, sah dann aber auf die Uhr und stellte fest, dass sie sich auf dem Weg zu ihrem Termin machen musste. Ihren Block, das Diktiergerät und ihre Schlüssel steckte sie ein, zog einen Mantel drüber und im letzten Moment, bevor sie ihre Wohnung verlassen wollte, ergriff sie das Basaltstück. Sie fuhr mehr als eine Stunde bis sie an der Adresse ankam, die man ihr gegeben hatte.
Es war ein ländlich gelegener Hof umgeben von Feldern und Wäldern. Die Zufahrt war nicht gepflastert und daher matschig. Hier und da standen Obstbäume, die noch voller Früchte waren und gerade als sie sich einen Parkplatz suchte, huschte eine weiße Katze über den Hof. Das alles machte nicht den Eindruck, dass hier ein Geisterredner wohnen würde. Eher hatte sie gedacht, dass er ein Zimmer in einem Altbau hätte, der dunkel eingerichtet und mit Kerzen beleuchtet ist. Als sie ausstieg, kam ein kleiner, schwarzer Hund auf sie zu gerannt, der sich schwanzwedelnd vor sie setzte und darauf wartete, begrüßt zu werden. Erst dann trat aus einer Seitentür ein älterer Mann hervor. Er war schlank, aber die Haare und der Bart waren so wie auf dem Fleyer. Er wirkte lebensfroh und voller Energie, sehr freundlich und gepflegt.
Mandy hatte einen unsympathischen und eingebildeten Greis erwartet und war von der Erscheinung angenehm überrascht.
"Sie müssen Mandy sein", begann er. "Es freut mich, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben." Mit einem festen Händedruck begrüßte er die Journalistin.
"Ja, danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben."
"Entschuldigen Sie bitte, dass ich diese Lokalität für unser Gespräch gewählt habe, aber ich glaube, das ist in Ihrem Fall angebrachter."
Mandy stutze und hakte nach: "Wo führen Sie denn sonst Ihre Gespräche, wenn ich fragen darf?"
"Ich erkläre Ihnen alles im Haus. Da ist es wärmer. Trinken Sie lieber Kaffee oder Tee?"
"Danke, dann lieber Kaffee." Es war die Frage, die sie erwartet hatte und nur aus Höflichkeit ging sie darauf ein, würde aber keinen Schluck nehmen.
***
Sie folgte ihm in das Gebäude. Auch hier zeigte sich, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, aber nicht negativ. Es war im Landhausstil eingerichtet, schwere, dunkle Holzmöbel gaben dem Gemäuer Charme. Zu dem Dunklen gesellten sich warme Farben und viele Fenster, die alles in einem kräftigen Licht erstrahlen ließen. Es roch nach getrockneten Kräutern und Früchten. Mandy folgte dem Mann in ein Nebenzimmer, in dem sie auf einem ledergepolsterten Holzstuhl platz nahm.
"Schauen Sie sich ruhig um. Wie trinken Sie denn Ihren Kaffee?"
"Schwarz bitte."
Dann ließ er sie zurück.
Lange hielt es sie nicht auf dem Stuhl und sie erhob sich wieder. An den Wänden waren Chinesische Symbole zu sehen, aber auch Runen der Germanen oder Alt-Gälische Wörter. Sie sah Räucherstäbchen und schaute sie sich genauer an. Um welche Düfte es sich handelte, konnte sie nicht sagen. Auf einer Schale waren Ying und Yang in Sand gemalt, umrandet von Edelsteinen und überall Pflanzen und Kerzen. An den Fenstern hingen Tücher, die vielleicht der Verdunklung dienten.
Ein schwacher Windhauch zeigte ihr, dass jemand das Zimmer betrat. Sie drehte sich um, lief in die Richtung ihres Stuhls und setzte sich wieder.
"Ich befasse mich viel mit Naturreligionen und anderen Kulturen. Daher die Symbole und Wörter." Der Guru schob ihr den dampfenden Kaffee entgegen.
"Nun, warum haben Sie mich hier her bestellt?"
"Weil ich das Gefühl habe, dass Sie was besonderes sind. Das Sie irgendetwas haben, was Sie von den meisten anderen Menschen unterscheidet."
"Wie kommen Sie darauf?"
"Das weiß ich noch nicht. Jahrelange Erfahrung und ein Bauchgefühl vielleicht. Was kann ich also für Sie tun?"
"Ich musste mich vor Jahren von meinem Hund trennen, da er nicht mehr richtig laufen konnte. Da kein Arzt sagen konnte, woran das lag, aber es auch nicht besser wurde, habe ich ihn schließlich einschläfern lassen. Mich würde interessieren, ob Sie mir vielleicht helfen können, ob es damals die richtige Entscheidung war. Also was er tatsächlich hatte."
"Denken Sie oft an ihn?"
"Ja."
"Wie lange beschäftigt Sie schon diese Frage?"
Mandy wusste nicht, worauf er hinaus wollte und überlegte.
"Es hört sich vielleicht blöd an, aber noch nicht so lange. Ich spiele mit dem Gedanke, mir einen Neuen zuzulegen. In dem Zusammenhang hat sich dann die Frage aufgedrängt, woran es wirklich lag."
"Wie lange ist es her, dass Sie diese Entscheidung getroffen haben und sich von Ihrem vierbeinigen Freund trennen mussten?"
"So drei, vier Jahre ist das schon her."
"Haben Sie ein Bild dabei und wie heißt er?"
"Moment. Er hieß Alf und war ein Sheltie." Nun durchsuchte sie ihre Unterlagen und dabei fiel das Bild aus ihrem Block, dass sie am vorherigen Tag bekommen hatte. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte ihr Gegenüber es bereits aufgehoben und betrachtete es nachdenklich.
"Woher haben Sie das Bild?"
Mandy sah auf. "Das lag gestern bei mir in der Post. Da hat sich vielleicht ein Nachbarkind einen Scherz erlaubt oder einfach den falschen Briefkasten erwischt. Wollen Sie es haben?" Ungewollt war es aus ihr herausgerutscht.
"Nein. Ich denke, das ist für Sie gedacht. Es gibt in dieser Welt nur selten Zufälle."
In dem Moment zog sie rasch ihre Hand zurück, da sie den Eindruck hatte, etwas kaltes würde darüber streichen.
"Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mandy?"
"Ich... ich denke schon." Und schon hielt sie das Bild ihres Hundes in der Hand. "Das ist er"
Einen Augenblick starrte der Guru sie an, als würde er in ihr Inneres schauen, was einen Schauer bei Mandy auslöste. Die eisblauen Augen schienen sie zu durchbohren.
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