"Okay. Dann konzentriere dich auf deinen Atem und werde ruhiger. Wenn du damit Schwierigkeiten hast, passe dich meinem Rhythmus an. Sobald dein Inneres Auge bereit ist, die Verbindung aufzubauen, lasse es zu. Ich werde es spüren und deine Hand nehmen. Es kann sein, dass du dich dabei erschreckst, lass es einfach passieren. Du wirst von alleine wieder zu dem Punkt gelangen, der dich in die Lage versetzt, ihm gedanklich deine Frage zu stellen. Wenn er der Meinung ist, dass du eine Antwort bekommen solltest, wirst du sie auch erhalten."
"Soll ich ihn mir einfach vorstellen?"
"Ja, stell dir einen schönen Moment mit ihm vor, in dem du davon überzeugt warst, dass es euch beiden gut geht. Alles weitere wird geschehen."
Sie gab sich alle Mühe, der Aufforderung nachzukommen, gab es aber nach einigen Minuten auf.
"Dann konzentriere dich auf meinen Atem. Das wird dir helfen"
Dass er die Anrede wechselte, fiel ihr nicht auf, nur dass seine Stimme immer weiter entfernt schien. Langsam kam sie zu Ruhe, spürte, wie ihr Atem von ihm geleitet durch ihren Brustkorb in die Lunge strömte, sich dort ausbreitete und die verbrauchte Luft wieder empor wanderte. Sie zuckte kurz zusammen, als er ihre Hand ergriff und in dem Moment hatte sie den Eindruck, als würde sich eine Wand aus Wolken vor ihr auftun.
Sie sah sich auf einer Wiese liegen, neben ihr rollte Alf auf dem Rücken auf die andere Seite. Er war noch jung. Die großen Pfoten machten ihm hin und wieder Probleme, ab und zu stolperte er über sie. Sein Fell war noch nicht so lang und seine Augen hellwach und aufmerksam. Jede ihrer Bewegung nahm er wahr und schien zu analysieren. In Gedanken rief sie ihn: "Alf mein kleiner. Alf." Der Vierbeiner kugelte zu ihr, legte eine Pfote auf ihren Oberkörper und ließ sich kraulen. Eine warme Stimme, die Mandy zuvor noch nie gehört hatte, antwortete ihr: "Ja, hier bin ich. Mir geht es gut. Aber du fehlst mir so." In diesem Zustand fühlte Mandy trotzdem noch, wie sich eine Träne ihren Weg bahnte. "Sag mir Alf. Was war los?" Wie von selber ließ sie sich auf das Gespräch ein. Es bedurfte keiner Hilfe, es war einfach da. "Du brauchst dir keine Gedanken machen, Mandy. Es war richtig. Ich war krank. Eine Krankheit, die nur sehr selten vorkommt und nur die wenigsten Ärzte hätten mir helfen können, wenn sie jemals davon gehört hätten." Sie spürte, wie ihr Herz leichter wurde. Wieder vernahm sie die Stimme: "Aber Frauchen, du bist hier nicht wegen mir. Jemand anders braucht deine Hilfe." Dann senkte sich die Wolkenwand und langsam öffnete sie wieder die Augen. Alles war verschwommen und erst dann wurde ihr klar, dass sie weinte.
"Ruh dich aus. Wenn du willst, kannst du dich etwas hinlegen." Mit den Worten stand der Mann auf und ließ sie alleine.
***
Wie lange sie gesessen und umher gelaufen war, konnte Mandy nicht sagen. Nur, dass sie aufgewühlt und durcheinander war. Es schien alles so absurd zu sein, so mysteriös und geheimnisvoll. Ein Phänomen, für das sie keine Erklärung fand. Die Stimme, die letzten Worte, hallten immer wieder in ihrem Kopf. Würde ihr jemand genau das erzählen, was sie gerade erlebt hat, sie würde das für Schwachsinn halten und diese Person nicht weiter beachten. Erst, als der Guru sich erkundigte, wie es ihr ginge, registrierte sie, dass sie nicht mehr alleine war.
"Es ist schwierig, zu verstehen, was Sie gerade erlebt haben. Aber das ist okay und normal. Zu Wesen, die uns einst mal nahe standen oder es immer noch tun, haben wir eine unsichtbare, schwer begreifliche Verbindung. Die wenigstens wissen, dass es das gibt. Wissenschaftlich gibt es keine Begründung, wie das kann. Aber wir müssen und können nicht einfach alles erklären, sondern müssen es akzeptieren und so annehmen, wie es ist."
Mandy dachte über die Worte nach. Vielleicht hatte er recht und es war einfach so. Sie hatte eine Frage, die sie schon länger beschäftigte, beantwortet bekommen, aber neue Fragen kamen auf, bei denen sie aber noch nicht in der Lage war, sie auszusprechen.
"Ich habe den Eindruck, dass da noch mehr ist, was Ihnen auf der Seele brennt. Das Bild. Darf ich es noch ein mal sehen?"
Wortlos holte sie es vor, betrachtete es ein weiteres Mal und versuchte einen Sinn oder zumindest ein Zeichen darin zu erkennen.
"Haben Sie Kinder oder hatten Sie mal eines?", War die Frage.
"Nein."
"Geht es irgendeinem Kind in Ihrem Bekanntenkreis im Moment nicht gut und hat es Angst zu sterben oder seine Eltern zu verlieren?"
Auch das verneinte sie.
"In Ihrer Nachbarschaft vielleicht?"
Sie überlegte. Alles, was ihr dazu einfiel, waren die vermissten Personen: "Eigentlich nicht. Ich hatte bis vor kurzem beruflich viel mit der Reihe verschwundener Leute zu tun. Vielleicht haben Sie davon gehört. Aber warum sollte ausgerechnet mir so ein Bild in den Briefkasten geworfen werden?"
"Was machen Sie beruflich?"
"Ich bin Journalistin bei einer Zeitung."
"Vielleicht erhoffen sich Kinder, dass Sie helfen können, die anderen wieder zu finden. Beschäftigt Sie eine bestimmte Person?"
Sie überlegte kurz, kam aber schnell zu einer Antwort: "Ja. Ein Junge. Er war der erste der Reihe, der verschwand. Ich habe vor kurzem seine Mutter durch Zufall kennen gelernt."
Der Mann lächelte. "Zufälle gibt es nicht. Aber damit will ich Sie nicht belästigen. Wie heißt er?"
"Sven."
"Glaubt seine Mutter noch daran, dass er lebt?"
"Nein. Sie ist fest davon überzeugt, dass er tot ist. Vielleicht findet man seine Leiche im Herbst, wenn alles kahl ist. Ich würde es ihr wünschen."
"Ja, da haben Sie recht. Die Ungewissheit ist das schlimmste, was den Angehörigen widerfahren kann."
"Und die Einsamkeit", fügte Mandy hinzu.
Darauf nickte er nur.
"Können Sie nicht versuchen, herauszufinden, was mit ihm ist?", brach es aus ihr hervor.
Er schaute auf. "Ist das der wahre Grund, dass Sie zu mir gekommen sind? Oftmals erkennt man erst die Wahrheit, wenn anderes ausgesprochen ist."
"Ich weiß es nicht. Es ist nur... sie wird niemals hier her kommen. Aber sie hätte gerne Antworten."
"Wir können es versuchen. Wenn der Junge bereit ist, mit dir zu sprechen, wird er ein Zeichen geben."
"Danke. Aber ich habe kein Bild von ihm."
"Dann wird es schwieriger und anstrengender, aber es ist nicht unmöglich."
"Er muss tot sein?"
"Ja, das ist leider die Bedingung, dass ich Kontakt zu ihm herstellen kann."
"Okay" Da sie ja wusste, wie alles ablaufen würde, konzentrierte sie sich auf ihren Atem, was ihr dieses mal auch viel besser und schneller gelang. Sie spürte, wie ihr Atem tiefer und langsamer wurde und wie er ihre Hand umfasste.
Ein heller Energiestrom verband sie, aber dieses Mal dauerte es, bis sich etwas tat. Die Wolkenwand, die bei Alf der Beginn war, ließ auf sich warten. Ein paar mal sah es so aus, als würde sich etwas tun, aber dann zerfiel sie wie ein Schneeball in einzelne Flocken, um schließlich ganz zu verschwinden. Im nächsten Augenblick stiegen Nebelschwaden auf, hinter denen Mandy einen schwachen Umriss zu sehen glaubte.
In Gedanken rief sie den Namen: "Sven? Sven? Bist du das?
Aber sie bekam keine Antwort.
"Sven, wenn du mich hörst, gib mir ein Zeichen. Deine Mutter vermisst dich."
Es überraschte sie, als sie die Stimme vernahm, die sie bereits mehrmals gehört hatte: "Mama"
In dem Moment hatte Mandy den Eindruck, als würde sich der Boden unter ihr auftun und sie verschlingen wollen. Dann hörte sie die Stimme ihres Partners: "Sven. Was ist los? Sprich mit uns." Aber auch da kam keine Antwort. Eine Hand griff nach dem Umriss, zog ihn fort und als Mandy glaubte, gleich bewusstlos zu werden, tauchte der Kopf des Jungen durch die Nebelschwaden hindurch, wurde aber wieder zurück gezerrt. Schließlich brach die Verbindung ab. Erschrocken sahen sich beide an. Dass Mandy nicht begriff, was da gerade passiert war, verwunderte sie nicht, aber als auch ihr Gegenüber nicht zu wissen schien, was das zu bedeuten hatte, war sie verunsichert.
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