Warum, am hellen Tag?, fragte er sich und sah sich um. Wiederum standen die Schränke offen und als Brunner an den Kleiderschrank trat, stellte er mit einem Blick fest, dass Kleidungsstücke fehlten. Er ging die noch vorhandenen mit seinen Blicken durch und wusste sofort, welche Dinge da fehlten. Ein Sommermantel, mehrere Kleider und ein Koffer, dessen war er sich sicher. Welche Wäsche genau fehlte, konnte er nicht sagen, nur dass sie teils fehlen musste, denn die Schubladen, wo Vera diese Dinge aufbewahrte, standen offen.
Was ist hier los?
Brunner stand fassungslos im Raum.
Vera, was hast du getan? Warum?
Er dachte an die Anspielung des Kriminalbeamten. Er konnte es nicht glauben. Sie hatte doch keinen Grund, ihn zu verlassen, und wenn sie es tatsächlich getan hatte, woran er mit jeder Faser seines Herzens zweifelte, sie hätte es nicht getan, ohne es ihm ins Gesicht zu sagen. Nein, sie wäre nie so davongelaufen. Aber wieso stand er dann hier in ihrem gemeinsamen Heim und stellte alle diese Dinge fest, die für das Gegenteil sprachen? Die Tür war ordnungsgemäß verschlossen gewesen, also war niemand eingebrochen. Vera führte immer einen Hausschlüssel mit sich, wenn sie das Haus verließ. Also gab es eigentlich keine andere Möglichkeit als die, dass ihn seine Frau verlassen hatte.
Nein! Vera hat mich nicht verlassen!
Nein, nein, nein! Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Er überlegte fieberhaft. Wie konnte er die Wahrheit herausfinden? Brunner sah sich hektisch im Raum um, lief ins Wohnzimmer, ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. Auch in die Küche und die restlichen Räume des Hauses schaute er. Irgendetwas musste es doch geben, das ihm weiterhalf.
Er lief zurück ins Schlafzimmer. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Seine Gedanken überschlugen sich.
Dann wusste er es.
Das Foto!
Es war eigentlich kein Foto, es war vielmehr eine Ultraschall-Aufnahme. Sie zeigte ihr ungeborenes Baby im Mutterleib. Franzi. Sie hatten ihr, obwohl sie eine Totgeburt war, einen Namen gegeben, denn beide wollten das Andenken an das Liebste, das nie das Licht der Welt erblickt hatte, immer in ihrem Herzen tragen. Die Aufnahme und der Name würden die Erinnerung an ihre Tochter ein Leben lang gegenwärtig lassen.
Brunner atmete schwer bei dem Gedanken an Franzi, schließlich begann er zu suchen. Wenn Vera ihn verlassen hatte, würde sie die Aufnahme mitgenommen haben. Dieses Ultraschallbild würde sie niemals zurücklassen. Sollte er die Aufnahme finden, konnte er auch mit Bestimmtheit sagen, dass Vera ihn nicht verlassen hatte.
Wo hatte Vera die Aufnahme abgelegt? Sie trug sie nie mit sich, die Angst vor dem Verschleiß im Laufe der Zeit war zu groß. Vera vergaß die Aufnahme beim Start in den Urlaub oder bei irgendeiner sonstigen längeren Abwesenheit nie. Wenn das Bild also nicht mehr aufzufinden war … oh, Gott, er wagte nicht, darüber nachzudenken … hatte ihn seine Frau wirklich verlassen. Dann war sie mitsamt der Aufnahme von ihm gegangen, ohne eine Erklärung.
Nein, das hat sie nicht getan. Ich muss dieses Bild finden! Ich muss wissen, was hier los ist!
Brunner achtete nun nicht mehr darauf, ob er die Wohnung in Unordnung versetzte. Er riss förmlich die Schubladen aus ihren Gleitschienen, leerte sie auf dem Boden aus, durchsuchte den Inhalt. Auch der Wäsche im Kleiderschrank erging es ebenso. Doch was er auch tat, er konnte das Bild nicht finden
Dann erinnerte er sich plötzlich daran, dass sie beide ja ein Geheimfach besaßen. Dass er nicht daran gedacht hatte!
Er und Vera hatten lange überlegt, ob sie sich für ihre Wertgegenstände einen Safe oder einen Tresor zulegen sollten. Doch er hatte seine Frau davon überzeugen können, dass man Dinge anders besser sichern konnte, unauffälliger und dennoch nahezu unauffindbar.
Er hatte den schweren Dielenschrank beiseitegeschoben, drei Dielen des Eichenparketts gelöst und die Isolierung links und rechts des Holzbalkens, auf den die Dielen befestigt waren, entnommen. Der so geschaffene Hohlraum reichte völlig aus, und außerdem konnte Brunner seinen kleinen Tresor jederzeit ihren Bedürfnissen anpassen. Die entnommenen Dielenbretter hatte er zusammengeleimt und sie als ein Stück lose auf dieselbe Stelle zurückgelegt. Den Schrank hatte er wieder an seinen Platz zurückgeschoben. Der Umstand, dass dieser eine Schublade im unteren Bereich aufwies, die sich über seine gesamte Breite erstreckte, verhinderte eine Sicht auf das Geheimversteck, auch dann, wenn man die Schublade entfernte, denn darunter befand sich das Unterteil des Schrankes.
Brunner stürmte in den Flur, schob mit aller Kraft den Schrank beiseite und versuchte, mit den Fingernägeln die Holzdielen zu lösen. Dieses Vorhaben gab er auf, als der Nagel seines rechten Zeigefingers brach und ein scharfer Schmerz seine Hand durchzuckte. Er ignorierte den Schmerz und lief in die Küche, den Zeigefinger im Mund, um den Schmerz zu lindern. Er riss eine Schublade der Küchenzeile auf, entnahm ihr das Messer irgendeines Bestecks und rannte zurück in den Flur.
Kurz darauf hatte er die Dielen gelöst und kramte in dem Inhalt der beiden Balkenkammern darunter.
Endlich hielt er es in der Hand, das Foto, das ihm bestätigte, dass Vera ihn nicht verlassen hatte.
Oh, Vera, Liebes, ich danke dir. Verzeih, dass ich gezweifelt habe.
Brunner drückte das Foto an seine Brust, bis ihm plötzlich klar wurde, was dies bedeutete.
Vera hat die Wohnung nicht freiwillig verlassen. Er hielt das Bild in der Hand. Das genügte ihm, sich darüber sicher zu sein
Man hat sie entführt!
Aber sie lebt! Das spürte er. Das wusste er.
Doch wo war Vera jetzt? Wie konnte er seine Frau finden? Was konnte er für sie tun?
Die Polizei! Dieser Kommissar. Er musste zu ihm. Brunner überlegte kurz. Nein, das würde nichts bringen. Der Kommissar hatte ihm erklärt, was er veranlassen würde. Daran würde sich auch bei seinem Erscheinen nichts ändern. Man war sicher bereits dabei, Vera zu suchen.
Und dennoch, der Kommissar musste wissen, was hier in dieser Wohnung geschehen war. Er musste wissen, dass jemand seine Frau von hier aus entführt hatte. Der Kommissar musste etwas tun. Brunner zückte sein Handy.
„Die Radio-Durchsage war eine gute Idee, Chef“, hörte ich die aufgeregte Stimme meines Kollegen Laufenberg am anderen Ende der Leitung. „Ein Mann, offensichtlich der Ehemann der Toten, hat sich daraufhin gemeldet. Er sagt, dass er seine Frau seit drei Tagen nicht mehr gesehen hat. Als er sie in ihrer Wohnung aufsuchen wollte, habe er sie nicht angetroffen. Er mache sich Sorgen.“
Laufenberg schien außer Atem und ich nutzte ich die Zeit, während er Luft nahm, um mir weitere Einzelheiten mitzuteilen. „Sie haben ihm mitgeteilt, dass seine Frau tot ist?“
Ich hörte, wie Laufenberg genervt die Luft ausstieß. „Nein, natürlich nicht, ich meine, am Telefon werde ich ihm eine solche Mitteilung doch nicht machen. Ich habe ihn zur Dienststelle bestellt. Er wird in etwa einer halben Stunde hier sein.“
„Das ist gut, Laufenberg. Ich werde mich beeilen. Lassen Sie den Mann so lange warten, bis ich eingetroffen bin.“
Ich beendete das Gespräch und sah auf die Uhr. Es war fast 17 Uhr. Dann kam mir in den Sinn, was ich Nette versprochen hatte. Heute wollte ich einmal pünktlich sein. Gerade heute, wo mich der Eindruck beschlichen hatte, dass es meiner Lebensgefährtin nicht besonders gut ging. Irgendetwas war da, das sie mir bisher verschwiegen hatte. Heute Abend wäre die Gelegenheit gewesen, mit ihr darüber zu sprechen, wenn mein Gefühl recht behielte.
Ich bestieg den Dienstwagen, verließ das Gelände der Stadtklinik und fuhr in Richtung Stadtmitte, um sogleich von dem Chaos des Feierabendverkehrs eingesogen zu werden. Es war, als habe man es auf mich abgesehen. Die Ampel, vor der ich gerade in der Autoschlange stand, lag so weit von der Straßenbiegung entfernt, dass ich sie nicht einmal erahnen konnte. Wenn es voran ging, dann gerade mal drei bis vier Autolängen weit. Ich überlegte, ob ich nicht von den Sonderrechten der Polizei Gebrauch machen sollte, nahm aber sofort wieder Abstand von diesem Gedanken. Martinshorn und Blaulicht hätten das Chaos nur unnötig verstärkt und so lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und wartete ab. Was sollte ich sonst auch tun?
Читать дальше