Die Frage, die sich mir seit dem Auffinden der Leiche immer wieder aufdrängte, war auch jetzt gegenwärtig.
Wird es weitere Opfer geben? Hat dieses Monster weiter gemordet und wir haben die Leichen bisher nur nicht gefunden?
Das Klappern von den Instrumenten auf dem kleinen Wagen schreckte mich aus meinen Gedanken. Habermann begann, mit einem Skalpell vorsichtig die Fäden zu durchschneiden, die sich durch Ober- und Unterlippe schlängelten und tief in das Fleisch eingedrungen waren. Er tat dies an drei verschiedenen Stellen und fing an, die zerteilten Fäden mit Daumen und Zeigefinger einzeln vorsichtig herauszuziehen.
„Solches Material verwenden Ärzte, zweifellos”, sagte er und hielt einen der Fäden vor mein Gesicht. „Wir haben hier einen nicht resorbierbaren Faden.“
„Und das bedeutet?“
„Das heißt, dieser Faden ist eigentlich für einen zeitlich begrenzten Raum gedacht, weil er ein Entzündungsrisiko darstellt, falls er unnötig lange im Körper eines Menschen verbleibt.”
„Was in unserem Falle doch eher eine untergeordnete Rolle spielt”, warf ich ein und erntete ein ärgerliches Stirnrunzeln.
„Auch ein Kriminalbeamter des gehobenen Dienstes kann noch dazulernen”, brummte Habermann. „Zumindest können Sie, falls das Thema irgendwann mal angesprochen wird, mitreden. Sehen Sie das, was ich Ihnen so nebenher erzähle, als eine kostenfreie Lektion an.”
Ich tat es und schwieg.
Habermann hatte nun alle Fäden gezogen und öffnete den Mund der Toten. Die Zunge erschien mir geschwollen und an der Spitze verletzt. Bevor ich Habermann fragen konnte, kam die Erklärung.
„Sie wird sich in ihrer Panik und dem Versuch, den Faden mit der Zunge zu lösen, die Verletzungen zugezogen haben. Vielleicht hat sie sich auch darauf gebissen. Warten Sie!”
Habermann leuchtete mit einer winzigen Taschenlampe in die Nasenöffnungen und nickte.
„Sie hat eine erhebliche Nasenscheidewand-Krümmung. Offensichtlich hat sie unter normalen Umständen schon Probleme mit der Atmung gehabt. Nach dem Zunähen des Mundes wurde dieses Problem so groß, dass Panik die Folge war.”
„Dann hat man ihr also den Mund zugenäht, als sie noch lebte”, stellte ich schockiert fest. „Glauben Sie, man hat sie für diese ... Maßnahme betäubt?”
Habermann bückte sich über das Gesicht der Toten, als suchte er nach etwas.
„Ich kann keine Einstichstellen für eine Injektion feststellen”, sagte er schließlich. „Ob irgendwelche Barbiturate eine Rolle spielen, kann ich erst nach Untersuchung der Proben des Blutes sagen.
Dann wandte er sich den Hämatomen am Hals zu, tastete sie ab, bewegte den Kopf der Toten in alle Richtungen und drückte schließlich mit einem Holzstäbchen die Zunge nach unten, um mit der Lampe ins Innere des Rachenraumes zu sehen.
„Keine Besonderheiten zu erkennen”, sagt er kurz. „Ich werde in die Tiefe sezieren müssen.“
Nun hob er mit einem Finger die Augenlider der Toten nach oben. „Punktuelle Einblutungen”, bestätigte er die polizeilichen Feststellungen und drehte sich zu mir um.
„Sie können recht damit haben, dass die Frau mit einer Plastiktüte erstickt wurde. Sehen Sie, die Petechien? Entschuldigen Sie, das sind kleine, punktförmige Blutungen, die zuerst in den Augenbindehäuten, dem Weiß des Augapfels und auf den Augenlidern auftreten. Petechien entstehen nicht, wenn der arterielle Blutfluss zum Kopf unterbrochen ist, also bei Erwürgen oder Erhängen. Petechiale Blutungen sind das äußerlich sichtbare Anzeichen für einen Erstickungstod. Ich hoffe, dass Ihnen das nicht allzu fachmännisch war, Herr Thalbach.“
Habermann lächelte mich verständnisvoll an. „Aber Sie hatten mit Ihrer Vermutung recht. Ich glaube kaum, dass wir Anhaltspunkte für eine andere Todesart finden werden. Ich werde die obligatorischen Untersuchungen durchführen, Sie kennen das ja: Öffnen der Brust und der Bauchdecke und Entnahme von Proben aller Organe. Sie müssen nicht dabeibleiben, falls Wichtiges auf Sie wartet.”
Er sah mich fragend an.
Ich nickte. „Ja, ich hätte tatsächlich Wichtiges zu tun. Dies hier wird kein Einzelfall bleiben.” Ich deutete auf die Frau. „Den Täter zu finden, und das so schnell wie möglich, hat Priorität vor Allem.”
Ich nickte Habermann und Kronauer zu und verließ den Sektionsraum. Ich wartete nicht, bis ich die Dienststelle erreichte, sondern rief Laufenberg an.
„Gibt es was Neues?”
„Kann man wohl sagen“, ertönte es mir durch den Lautsprecher des Mobiltelefons entgegen. „Wir wissen nun endlich, wer die Tote ist.“
Das Herz schlug Frederik Brunner bis zum Hals, als er den Schlüssel in das Schloss seiner Haustür aus eloxiertem Leichtmetall steckte und aufschloss. Sein Haus hatte er vor einigen Jahren am Stadtrand als Bungalow erbauen lassen. Dieser war nicht sehr groß, aber so, dass er seinen Bedürfnissen entsprach und auch denen von Vera und vor allem, dass die Finanzierung sich in einem vertretbaren Rahmen hielt.
Er drückte die Tür nach innen auf, blieb dann jedoch stehen und lauschte einen Augenblick in die Räumlichkeiten hinein. Jetzt ein Geräusch, Schritte, Atmen oder die Stimme von Vera, und alles wäre wieder gut gewesen. Alle sorgenvollen Stunden, die hinter ihm lagen, wären vergessen. Er würde sie in die Arme schließen und sie nicht mehr loslassen.
Er neigte den Kopf nach vorne, als verstärke sich dadurch die Möglichkeit, Geräusche wahrzunehmen. Er hielt den Atem an.
Es blieb still. Außer dem Klopfen seines Herzens war da nichts. Er schloss langsam die Tür hinter sich und ging bedächtig die schmale Diele entlang, vorbei an den geschlossenen Türen des Baderaums, seines Büros und des Abstellraums. Er achtete nicht darauf, ob sich dahinter Vera befand. Die letzte Tür des Flurs hatte ihn in seinen Bann gezogen und plötzlich ging sein Atem schneller. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Unter der Tür schimmerte es gelblich hindurch. Die Beleuchtung in der Küche brannte. Brunner kam es nicht in den Sinn, dass es noch später Nachmittag und daher draußen keineswegs dunkel war. Er sah nur das Licht.
Vera! Sie ist zuhause!
„Vera!“
Sein Ruf verhallte ungehört und Nachdenklichkeit ergriff von Brunner Besitz.
„Vera!“ Er rief es ein zweites Mal, dann stieß er die Tür zur Küche auf.
Die Deckenbeleuchtung brannte. Der Rollladen des Fensters war herabgelassen. Es war niemand im Raum.
Brunner trat ein und sah sich um. Es war alles so, wie es an jedem Tag war. Er drehte sich im Kreis. Alles schien an seinem Ort zu sein. Und doch war es nicht wie sonst. Das Licht brannte, der Rollladen war verschlossen. Tagsüber!
Das war anders als sonst.
Warum hat Vera das getan? Ist sie doch im Haus?
Der Bungalow hatte ja keine zweite Etage und auch keinen Keller, nur ein Schuppen stand hinter dem Haus. Dort hatte er seine Gartengerätschaften abgestellt. Einen Raum gab es noch. Das Wohnzimmer.
Er durchquerte die Küche und streckte die Hand nach der Türklinke zum Wohnzimmer aus, da sah er es. Die Türen der Schränke standen offen, einige Schubladen waren halb geöffnet. Doch es gab keine Unordnung. Nichts war auf dem Fußboden verstreut, keine Bücher oder Akten aus den Regalen gerissen, nichts. Nur die Türen und einige Schubladen waren geöffnet.
„Vera!“, rief Brunner erneut und hastete durch den Raum, schaute hinter die Sesselgarnitur, warf einen Blick in das integrierte Esszimmer.
Vera war nicht da.
Das Schlafzimmer! Vielleicht hatte sie sich etwas hingelegt. Er durchquerte das Wohnzimmer, eilte durch den Flur und blieb kurz vor der Schlafzimmertür stehen. Er atmete tief ein, dann drückte er die Klinke der Tür hinunter.
Der Raum war dunkel. Er schaltete die Beleuchtung ein. Auch hier waren die Rollläden herabgelassen.
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