8. Oktober 2012 in einer Holzhütte
Nach drei Tagen Gefangenschaft war Constance hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie hatte noch nie so viel Angst verspürt, sich noch nie so einsam gefühlt. Während sie Stunde um Stunde im Dämmerlicht der Hütte verharrte, kreisten ihre Gedanken um ihre Tochter, um ihre Familie und um ihre Entführung. Die Kidnapper hatten sich immer noch nicht gezeigt. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Die Ungewissheit war unerträglich.
Regen prasselte unaufhörlich auf die kleine Dachluke. Es war empfindlich kalt geworden.
Du musst dich bewegen!
Langsam kam sie auf die Beine, nahm die Wolldecke von der Pritsche und legte sie sich um die Schultern. Sie reichte ihr bis zu den nackten Waden. Barfuß ging sie zwei Schritte nach rechts und drehte sich wieder herum. Vier Schritte nach links, die Metallkette jetzt vor der Brust. Sechs Schritte hin, sechs zurück. Sechs hin, sechs zurück. Immer die gleiche Anzahl. Laut zählte sie mit. Das lenkte sie von ihrer Angst ab.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. – Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“
Immer der gleiche Weg. Wie ein Tiger im Käfig. Sechs Schritte - mehr ließ die Kette nicht zu.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“
Du kommst hier wieder raus! Paps wird zahlen! Egal, wie viel sie verlangen!
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“
Nicht nachdenken! Zählen!
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“
Entkräftet sank sie schließlich auf die Pritsche. Viel wärmer war ihr nicht geworden. Dafür spürte sie deutlich ihre kalten Füße. Rasch zog sie den linken Fuß unter sich und rieb mit der Hand immer wieder über die rechte Fußsohle. Nach einer Weile wechselte sie die Position und zog den rechten Fuß unter sich. Durch ihre Körperwärme fühlte sich der linke Fuß nicht mehr so kalt an. Trotzdem rieb sie kräftig weiter. Was hätte sie jetzt alles für ein Paar Wollsocken gegeben! Sie wusste, wie wichtig es war, dass ihr Körper nicht auskühlte. Sie durfte sich nicht erkälten! Ihre Entführer würden sie kaum mit Medikamenten versorgen. Wenn sie überhaupt irgendwann auftauchten.
Grübelnd rollte sie sich in embryonaler Haltung zusammen und zog die Decke dicht um sich.
Sollten Tante Betty und Harry wirklich hinter der Entführung stecken, würden die sie freilassen, sowie sie das Lösegeld hätten. Schließlich waren sie trotz allem miteinander verwandt. Tante Betty hatte sie doch immer gemocht – und Harry sowieso. Musste ihnen nicht daran gelegen sein, dass sie unversehrt zu ihrer Familie zurückkehrte?
Jäh setzte sie sich auf. Oder etwa nicht? Mussten die beiden nicht damit rechnen, dass sie sich an den Besuch bei ihrer Tante erinnerte – und an den bitter schmeckenden Tee? War es nicht viel zu gefährlich, sie freizulassen? Vielleicht ließen sich ihre Entführer deshalb nicht sehen! Dann würde sie in dieser elenden Hütte sterben!
Unwillkürlich schossen ihr Tränen in die Augen. Schluchzend krümmte sie sich zusammen. Sie weinte, bis sie erschöpft einschlief.
August 2012
Am Tag nach der Renovierung fuhr Constance gleich morgens zur Klinik am Stadtpark. Nach ihrem Medizinstudium hatte sie sich auf Störungen im Bewegungsapparat des Menschen spezialisiert. Wenigstens einmal in der Woche suchte sie die Patienten auf, die nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bei ihr im Zentrum ambulant weiterbehandelt wurden. Eine ihrer Mitarbeiterinnen betreute diese Patienten vormittags in der Klinik, in manchen Fällen übernahm Constance die Therapie jedoch von Anfang an selbst.
An diesem Morgen beschäftigte sie sich intensiv mit einem Schlaganfallpatienten, der unter rechtsseitigen Lähmungen litt.
Anschließend schaute sie in das Arbeitszimmer der Oberärztin der Orthopädie Dr. Sabine Schubert, mit der sie seit Jahren befreundet war.
„Hallo, Sabine", sagte Constance mit der Klinke in der Hand. „Hast du einen Moment Zeit?"
„Für dich immer", erwiderte die Kollegin und klappte eine Patientenakte zu. „Nimm dir einen Kaffee und setz dich zu mir."
Gern kam Constance dieser Aufforderung nach.
„Was gibt es Neues, Conny?", fragte Sabine, als sie ihr gegenüber saß. „Hast du die Renovierung deines Wartezimmers schon durchgezogen?"
„Es ist gestern fertiggeworden", bestätigte Constance, ehe sie an ihrem heißen Kaffee nippte. „Und wie sieht es bei dir aus? Der Flurfunk meldet, dass du Piet endlich erhört hast.“
„Was hätte ich tun sollen? Du wolltest mich doch unbedingt mit ihm verkuppeln.“
„Ich?“
„Tu bloß nicht so unschuldig. Das ist doch dein liebstes Hobby. Nur weil es dir nicht gelingt, deine Eltern wieder zusammenzubringen, spielst du bei anderen Leuten Amors Assistentin. Dabei solltest du dich besser um dein eigenes Liebesleben kümmern.“
„Das sagst ausgerechnet du?“, erwiderte Constance ohne Vorwurf. „Immerhin warst du fast so lange Single wie ich. Hättest du Piet nicht kenngelernt ...“ Gespannt hob sie die Brauen. „Wie ist es ihm denn gelungen, diesen Zustand zu beenden?“
„Er hat mich damit geködert, dass er einen Kurs in japanischer Liebeskunst absolviert hat."
„Wie funktioniert das denn? Etwa mit Stäbchen?"
„Wenn ich das rausgefunden habe, gebe ich meine Erfahrungen gern an dich weiter."
„Du bist eine wahre Freundin", meinte Constance amüsiert. „Verrätst du mir auch, wie du dich mit dem neuen Verwaltungsdirektor geeinigt hast? Darfst du das Pflegepersonal auf deiner Station behalten?"
„Eine Schwester hat er mir schon gestrichen", monierte sie. „Demnächst sollen auch noch die Pfleger drankommen." Kampfeslustig reckte sie das Kinn. „Aber ohne mich! Von meiner Station gebe ich keinen her!"
„Was sagen denn die anderen Kollegen?"
„Die sind alle nicht besonders gut auf den Herzog zu sprechen. Mit seinen Umstrukturierungsmaßnahmen bringt er alles durcheinander. Er lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich wurde er ja eingestellt, um die Kosten der Klinik zu reduzieren. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis er auch dich und deine Leute am Wickel hat."
„Darüber mache ich mir keine Gedanken, Sabine. Immerhin habe ich einen Vertrag."
„... der Ende des Jahres ausläuft", erinnerte die Freundin sie. „Vergiss nicht, dass es sich bei deiner Tätigkeit für die Klinik um einen befristeten Modellversuch handelt."
„Mir wurde aber eine Vertragsverlängerung zugesichert, falls sich die Zusammenarbeit zwischen der Klinik und dem Therapie-Zentrum bewährt."
„So, wie ich diesen Mann einschätze, findet er ein Haar in jeder Suppe, wenn er nur lange genug danach sucht. Darauf ist der doch spezialisiert.“
„An mir würde er sich genauso die Zähne ausbeißen wie vor ihm Benno Gerlach", sagte Constance zuversichtlich. „Der versucht doch auch dauernd, mir Steine in den Weg zu legen. – Nur, weil ich seine männliche Eitelkeit gekränkt habe."
„Ich begreife nicht, wie er erwarten konnte, dass du ihm freudestrahlend in die Arme sinkst. Immerhin hattet ihr jahrelang keinen Kontakt. Wie konntest du damals überhaupt auf ihn reinfallen?"
„Meine Güte, ich war eben jung und naiv. Mit achtzehn tut man manchmal etwas, das man später selbst nicht mehr versteht. Damals war mir nicht klar, dass es das Geld meines Vaters war, das ihn am meisten an mir interessiert hat. Benno hat mir wohl nie verziehen, dass ich ihn sofort abserviert habe."
„Trotzdem hat er gleich wieder versucht mit dir anzubandeln, als er hier vor sieben Monaten die Buchhaltung übernommen hat. Wahrscheinlich wollte er sogar Verwaltungsdirektor werden. Ihm hat es bestimmt nicht gepasst, dass ihm der Aufsichtsrat den Herzog vor die Nase gesetzt hat, als Bollmann in Pension ging."
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