„Adrian ...", murmelte sie mit Tränen in den Augen. Sie sehnte sich nach ihm, nach der Geborgenheit in seinen Armen. Wann würde sie ihn wiedersehen? Ließ man sie nach der Lösegeldübergabe überhaupt frei? Oder würde man sie in dieser elenden Hütte ihrem Schicksal überlassen?
Verzweifelt schluchzte sie auf. Was würde dann aus ihrer Tochter? Wie würden ihre Eltern das verkraften? Und vor allem ihre Großmutter?
Ihre Gedanken kehrten zu Adrian zurück. Sie kannten sich seit etwa zwei Monaten, waren aber erst seit einer Woche zusammen. Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, als sie an ihre erste Begegnung dachte.
August 2012
Constance hatte das Therapiezentrum ein halbes Jahr zuvor eröffnet. Es war schon immer ihr Traum gewesen, alle für ihre Fachrichtung wichtigen Behandlungen unter einem Dach anzubieten. Dadurch entfielen für ihre Patienten, die überwiegend in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt waren, lange Wege. Außerdem konnte sie die weitere Behandlung mit den Kollegen persönlich und zeitnah absprechen.
Herzstück des Zentrums war ihre Praxis für Orthopädie und Sportmedizin. Daran angeschlossen waren verschiedene Abteilungen: Physiotherapie, Ergotherapie und Hydrotherapie, außerdem zählten Massagen, Gymnastik- und Yogakurse zu den Angeboten.
Constance war nicht nur stolz darauf, dass sie ihre Pläne ohne die finanzielle Hilfe ihres Vaters verwirklicht hatte, sondern auch auf den Erfolg ihrer Idee. Das Zentrum wurde von Patienten so gut angenommen, dass sie den Wartebereich hatte erweitern müssen. Zwar klappte die Terminvergabe gut, aber viele Patienten kamen unangemeldet. Deshalb waren zusätzliche Sitzplätze notwendig.
Für die Umgestaltung hatte sie einen Mittwochnachmittag gewählt, an dem das Zentrum geschlossen war, und aus Kostengründen einen Helfer von der Jobvermittlung angefordert.
Als dieser Mann endlich erschien, hatte Constance schon mit der Arbeit begonnen. Sie war etwas ungehalten über die Verspätung des Helfers, der zunächst verwundert darüber schien, dass er eine Wand streichen sollte. Er wirkte auch nicht wie ein Gelegenheitsarbeiter, der öfter solche Jobs übernahm. Aber Constance fragte nicht weiter nach, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie wusste, dass es Arbeitslosen oft unangenehm war, darüber zu sprechen, wie sie in diese Lage geraten waren.
Nach etwa zwei Stunden machten sie eine kurze Pause. Bei einer Flasche Mineralwasser begutachteten sie ihr Werk.
„Wer hat Sie eigentlich dazu verdonnert, hier zu pinseln?“, fragte er, wobei er sie ungeniert musterte. Was er sah, schien ihm zu gefallen. „Der alte Drache?“
Irritiert blickte sie ihn an.
„Wer?“
„Ihre Chefin. - Angeblich soll diese Frau Dr. Meves ziemlich resolut sein.“ Erwartungsvoll trat er einen Schritt näher. „Unter uns gesagt: Ist sie wirklich so ein harter Brocken?“
Rasch blickte sie sich nach allen Seiten um, als müsse sie sich vergewissern, dass sie von niemandem gehört wurde.
„Unter uns gesagt: Diese Frau hat Haare auf den Zähnen. Man sollte sich besser nicht mit ihr anlegen.“
„Ist sie wirklich so schlimm?“
„Das bleibt aber bitte unter uns. Sonst müsste ich mir wahrscheinlich einen neuen Job suchen.“
„Ich kann schweigen“, behauptete er, bevor er sie noch einmal taxierte. „Obwohl eine Frau wie Sie bestimmt nicht lange arbeitslos wäre.“
„Darauf möchte ich es lieber nicht ankommen lassen. Deshalb sollten wir jetzt weiterarbeiten.“
„Okay“, sagte er und stellte seine Flasche auf die Fensterbank. „Sie gefallen mir trotzdem“, fügte er hinzu und griff wieder nach der Farbrolle. „Sehr sogar.“
Sie kommentierte seine Worte nicht, obwohl er anziehend auf sie wirkte. Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht auf einen Flirt eingelassen, aber dafür hatte sie keine Zeit. Sie musste sich auf ihre Arbeit im Zentrum konzentrieren, damit sie kürzertreten konnte, wenn ihre Tochter in sechs Monaten von ihrem Auslandsschuljahr zurückkehren würde.
Als die Wände gestrichen waren, räumten sie die Malerutensilien in einen Abstellraum und falteten gemeinsam die Folie auf dem Fußboden zusammen.
Schließlich blieb der Helfer dicht vor Constance stehen und übergab ihr seine Hälfte der Plane. Dabei verfingen sich ihre Blicke.
In diesem Moment kamen vier Männer herein, die allesamt in schwarze Lederkombis gekleidet waren.
„Stören wir?“
„Ja“, sagte Constances Hilfsarbeiter etwas ungehalten, aber sie schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Aha“, meinte der Mann, dessen Körperbau einem Kleiderschrank ähnelte. „Dann kann die Party ja steigen.“
Bevor Constance etwas sagen konnte, schob sich ihr Helfer zwischen sie und den vermeintlichen Rocker.
„Hier gibt es keine Party. Ihr solltet besser verschwinden.“
Mit breitem Grinsen verschränkte der vollbärtige Mann die mächtigen Arme vor der Brust.
„Woher hast du denn den Komiker?“
„Die Jobvermittlung hat ihn geschickt“, erklärte Constance.
„Zum Pinseln? Der sieht eher aus wie ein Schreibtischhengst. Hat er auch einen Namen?“
„Man nennt mich Karate-Kid“, sagte der Helfer völlig ernst. „Außerdem bin ich vielseitig begabt. Also spar dir deine dummen Sprüche.“
„Okay, das reicht jetzt, Jungs!“ Energisch trat Constance zwischen die Männer, die sie allesamt überragten. „Habt ihr die Stühle abgeholt, Buddy?“
„Wir müssen sie nur noch ausladen.“ Herausfordernd blickte er Karate-Kid an. „Du kannst auch mit anpacken. Oder bist du nur zum Pinseln zu gebrauchen?“
„Das wirst du gleich sehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er hinaus.
Zu fünft trugen sie das neue Mobiliar aus dem vor dem Haus geparkten Lastwagen ins Zentrum. Constance zeigte ihnen, wohin sie die Stühle stellen sollten.
„Das war’s", wandte sich Buddy schließlich an Constance. „Hast du sonst noch was für uns zu tun?"
„Nein, danke. Meinetwegen könnt ihr den Laster jetzt zurückbringen. Wir treffen uns dann bei Didi. Er soll schon mal seine größten Steaks für uns in die Pfanne hauen; ich habe einen Bärenhunger."
„Didi weiß schon Bescheid", sagte ein blonder Hüne mit Bürstenhaarschnitt. „Ich habe ihn vorhin schon vorgewarnt, dass wir nachher mit Mordshunger im Domino einfallen. Punkt acht steht für jeden von uns ein Bier auf dem Tisch."
„Keule, du bist einmalig", lobte Constance ihn lächelnd. „Sowie ich geduscht und mich umgezogen habe, stoße ich zu euch."
„Okay, bis dann", entgegnete der Mann, worauf die vier Freunde das Zentrum verließen.
„So, und nun zu Ihnen", wandte sich Constance an ihren Helfer. „Sie waren gegen vier Uhr hier; jetzt ist es gleich halb acht. Mit der Arbeitsvermittlung waren zehn Euro pro Stunde vereinbart." Mit zwei Fingern fischte sie eine Banknote aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und reichte dem Mann den Fünfzigeuroschein.
„Das ist aber zu viel", protestierte er. „Leider habe ich kein Wechselgeld bei mir."
„Lassen Sie nur", winkte sie ab. „Sie haben gut gearbeitet. Gönnen Sie sich von dem Rest einen netten Abend, oder kaufen Sie Ihrer Frau einen Blumenstrauß."
„Bislang habe ich mich noch nicht einfangen lassen." Seine braunen Augen funkelten provokant. „Ein wilder Hengst lässt sich nicht so leicht zähmen."
Sie ahnte, dass er über einige Erfahrung mit Frauen verfügte, obwohl sein Lächeln jungenhaft wirkte.
„Ein sattelfester Reiter wüsste sicher auch ein noch so störrisches Pferd zu bändigen", meinte sie spöttisch. „Oder haben Sie noch nie von Zuckerbrot und Peitsche gehört? Das ist alles nur eine Frage der Dosierung."
„Sprechen Sie aus Erfahrung?" Erwartungsvoll musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Hätten Sie nicht Lust herauszufinden, ob Ihre Methode auch bei mir funktioniert?"
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