Klaus Melcher
Spurensuche
Wer war mein Opa?
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Inhaltsverzeichnis
Titel Klaus Melcher Spurensuche Wer war mein Opa? Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel 1. Kapitel Verwehte Spuren An meinen Opa habe ich keine Erinnerung, hatte ich eigentlich nie, auch nicht als ich Kind war. Wenn ich nach meinem Opa fragte, hieß es immer: „Opa ist im Himmel“ oder „Dein Opa war ein sehr wichtiger und angesehener Mann“ oder „Er ist verreist.“. Und wenn ich etwas besonders gut gemacht hatte, sagte meine Oma: „Das würde den Opa freuen“. Aber das kam sehr selten vor. Sehnlich hatte ich mir einen Opa gewünscht, wie andere Kinder ihn hatten. Graue etwas schüttere Haare, ein sonnengegerbtes Gesicht, eine tiefe sanfte Stimme, so stellte ich ihn mir vor . Und gutmütig sollte er sein, mir jeden kleinen Wunsch von den Lippen ablesen und erfüllen, bevor ich ihn ausgesprochen hatte. Aussprechen würde ich meine Wünsche nämlich nicht, das schien mir unverschämt, denn ich wusste, dass mein Opa mich liebte, und Opas, die ihre Enkelin lieben, tun für sie alles. Aber ich hatte – wie gesagt – keinen Opa. Wenn ich mal meine Oma fragte, ob mein Opa nicht irgendwann von seiner Reise zurückkäme, dann schien sie einen Augenblick traurig und bekam ganz wässrige Augen, noch wässrigere, als sie sowieso schon hatte, so wie Magermilch, so ein helles verwässertes Blau. In den Büchern, die ich damals las, gab es öfter solche Omas. Auch mit solchen Magermilchaugen. Aber die waren immer lieb zu ihren Enkeln und ihre Enkel liebten sie. Meine Oma liebte mich nicht, und ich hatte sie auch nicht lieb. Meine Oma hatte eigentlich niemanden lieb. Ich glaube, nicht einmal meine Mutter. Tiere, ja, die hatte sie lieb, jedenfalls sagte sie das immer, auf die wäre Verlass, die wären nicht falsch wie die Menschen, und dabei sah sie mich immer so merkwürdig an. Jahre später, als ich mich nicht mehr mit der Geschichte vom Verreisen abspeisen lassen wollte und auch nicht mehr an den Himmel glaubte, fragte ich einmal – vielleicht zu energisch: „Wer war eigentlich mein Opa?“ und bekam nur zur Antwort: „Dein Opa hat sich nichts zuschulden kommen lassen!“ Und dabei blieb es. Inzwischen bin ich fast dreißig und habe mich damit abgefunden, keinen Opa zu haben, egal, ob er im Himmel, auf Reisen oder sonst wo ist. Er ist einfach nicht da, als hätte es ihn nie gegeben. Nur eine Frage beschäftigt mich nach wie vor: Wie kann es geschehen, dass ein sehr wichtiger und angesehener Mann, wie meine Oma immer sagte, einfach spurlos verschwindet?
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
Impressum neobooks
Verwehte Spuren
An meinen Opa habe ich keine Erinnerung, hatte ich eigentlich nie, auch nicht als ich Kind war.
Wenn ich nach meinem Opa fragte, hieß es immer: „Opa ist im Himmel“ oder „Dein Opa war ein sehr wichtiger und angesehener Mann“ oder „Er ist verreist.“.
Und wenn ich etwas besonders gut gemacht hatte, sagte meine Oma: „Das würde den Opa freuen“.
Aber das kam sehr selten vor.
Sehnlich hatte ich mir einen Opa gewünscht, wie andere Kinder ihn hatten.
Graue etwas schüttere Haare, ein sonnengegerbtes Gesicht, eine tiefe sanfte Stimme, so stellte ich ihn mir vor .
Und gutmütig sollte er sein, mir jeden kleinen Wunsch von den Lippen ablesen und erfüllen, bevor ich ihn ausgesprochen hatte. Aussprechen würde ich meine Wünsche nämlich nicht, das schien mir unverschämt, denn ich wusste, dass mein Opa mich liebte, und Opas, die ihre Enkelin lieben, tun für sie alles.
Aber ich hatte – wie gesagt – keinen Opa.
Wenn ich mal meine Oma fragte, ob mein Opa nicht irgendwann von seiner Reise zurückkäme, dann schien sie einen Augenblick traurig und bekam ganz wässrige Augen, noch wässrigere, als sie sowieso schon hatte, so wie Magermilch, so ein helles verwässertes Blau.
In den Büchern, die ich damals las, gab es öfter solche Omas.
Auch mit solchen Magermilchaugen. Aber die waren immer lieb zu ihren Enkeln und ihre Enkel liebten sie.
Meine Oma liebte mich nicht, und ich hatte sie auch nicht lieb.
Meine Oma hatte eigentlich niemanden lieb. Ich glaube, nicht einmal meine Mutter.
Tiere, ja, die hatte sie lieb, jedenfalls sagte sie das immer, auf die wäre Verlass, die wären nicht falsch wie die Menschen, und dabei sah sie mich immer so merkwürdig an.
Jahre später, als ich mich nicht mehr mit der Geschichte vom Verreisen abspeisen lassen wollte und auch nicht mehr an den Himmel glaubte, fragte ich einmal – vielleicht zu energisch: „Wer war eigentlich mein Opa?“ und bekam nur zur Antwort: „Dein Opa hat sich nichts zuschulden kommen lassen!“
Und dabei blieb es.
Inzwischen bin ich fast dreißig und habe mich damit abgefunden, keinen Opa zu haben, egal, ob er im Himmel, auf Reisen oder sonst wo ist.
Er ist einfach nicht da, als hätte es ihn nie gegeben.
Nur eine Frage beschäftigt mich nach wie vor: Wie kann es geschehen, dass ein sehr wichtiger und angesehener Mann, wie meine Oma immer sagte, einfach spurlos verschwindet?
Berlin, Waldfriedhof, 13. November 1994
Die Grabstelle H 23 lag am hinteren Rand des Waldfriedhofs, Rücken an Rücken mit einem der aufwändigen Mausoleen in diesem Bereich. Von der Friedhofsmauer trennten sie nur ein schmaler Weg und ein noch schmalerer Streifen, der mit schlanken Sträuchern und Büschen bepflanzt war. Da man die Büsche sich selbst überließ und nicht regelmäßig beschnitt, hatten sie sich im Laufe der Zeit ausgebreitet. Der Weg war immer weiter zugewachsen, so dass man sich nur im Krebsgang fortbewegen konnte oder auf eins der anderen Gräber dieser Reihe ausweichen musste.
Hier ein Grab zu unterhalten, war für die Angehörigen eine Qual. Die Pflege der Gräber war so anstrengend, dass sich die Friedhofsgärtnerei weigerte, die Arbeiten zu übernehmen, oder einen erheblichen Aufpreis berechnete, wenn sie – aus Mitleid - doch mal einen Auftrag übernahm.
Und so sahen die Gräber auch aus. Ungepflegt, von Dornen und Unkraut überwuchert. Die Grabsteine waren zugewachsen, ihre Inschriften nicht mehr erkennbar.
Man nannte ihn den Friedhof der Vergessenen, wenn man ihn überhaupt kannte.
Anpflanzen konnte man auf der Grabstelle H 23 praktisch nichts. Sie lag im Schatten des Mausoleums, eines tempelartigen Baus aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, dessen Eingang zwei kniende, dick bemooste Engel bewachten, und einer Platane gewaltigen Ausmaßes.
Efeu bot sich als einzige Grabbepflanzung an, im Frühjahr allenfalls noch Winterling und Schneeglöckchen und Buschwindröschen. Spätestens wenn das Laub der Platane ein dichtes Dach bildete, würde es keine Farbtupfer mehr auf der dunkelgrün-schwarzgrauen Grababdeckung geben.
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