Rolf W. Meyer - Spurensuche zur Entwicklungsgeschichte des Menschen

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Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine bedeutende Anzahl fossiler Funde von Vormenschen- und Menschenformen, den Homininen, entdecken können. Durch den Einsatz moderner und häufig auch ungewöhnlicher Arbeits- und Untersuchungsmethoden in der Paläoanthropologie sowie durch eine fächerübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit unter erweiterten Fragestellungen, wird in der Forschung der Blick dafür geöffnet, die Evolution der Homininen unter anderen Gesichtspunkten als bisher zu betrachten. Paläogenetisch lässt sich durch die Analyse alter DNA («ancient DNA») aus gut erhaltenen Homininen-Fossilien und aus dem Vergleich mit der DNA heutiger Menschen belegen, dass der Homo sapiens sapiens (auch «anatomisch moderner Mensch» genannt) von seiner Entwicklungsgeschichte her ein genetisches und anatomisches Mosaik aufweist. Unsere «moderne Identität» spiegelt das Ergebnis von zwei Millionen Jahren Migration wider.

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Rolf W. Meyer

Spurensuche zur Entwicklungsgeschichte des Menschen

oder

Der lange Weg zur Menschwerdung

Impressum

Rolf W. Meyer

Spurensuche zur Entwicklungsgeschichte des Menschen

Copyright: © 2018 Rolf W. Meyer

Konvertierung: sabine abels | e-book-erstellung.de

Umschlagfotos:

- Höhlengrabung (Bildquelle: Neanderthal Museum, Mettmann)

- Fährtenleser aus Namibia vor den eiszeitlichen Fußabdrücken in der Höhle Tuc d’Audoubert in der Ariège, Frankreich (Bildquelle: Tracking in Caves 2013)

- Untersuchung alter DNA (Bildquelle: J. Burger, Institut für Anthropologie, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz)

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

»Knochen, Werkzeuge und Gen-Analysen verraten viel – der Rest ist Spekulation.«

Gerd-Christian Weniger, Archäologe

Vorwort

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine bedeutende Anzahl fossiler Funde von Homininen (Vormenschen- und Menschenformen) entdecken können. Derartige fossile Funde, auf die man durch aufwendige Grabungen auf allen Kontinenten der Erde aber oft auch zufällig stößt, erregen seit der Entdeckung des Neanderthaler-Skeletts im Jahre 1856 immer wieder Aufsehen. Ständig entwickelt man aufgrund neuer Erkenntnisse und mit Hilfe erweiterten Fachwissens neue Theorien. Bestehende Theorien werden korrigiert, ergänzt oder verworfen, neue Überlegungen kritisch hinterfragt. Schon lange beschränken sich Paläoanthropologen nicht mehr nur darauf, fossile Funde zu datieren, zu vermessen und in Stammbäume (phylogenetische Bäume; alternativ verwendet man in der biologischen Systematik die Bezeichnung „Stammbusch“) einzuordnen. Vielmehr setzt man Arbeits- und Untersuchungsmethoden aus verschiedenen Fachbereichen ein und bemüht sich um eine möglichst umfassende Rekonstruktion des Erscheinungsbildes und der Lebensweise der menschlichen Vorfahren. Dabei untersucht man Zusammenhänge zwischen ökologischen Bedingungen, Sozialsystemen sowie anatomischen und physiologischen Merkmalen mit Blick auf die Eignung bzw. dem Fortpflanzungserfolg (Fitness) der Individuen. Manche Faktoren der Hominisation („Menschwerdung“), wie z.B. Körpergröße, Geschlechtsdimorphismus, Gehirnvolumen, Gebiss, Werkzeugherstellung, können aus fossilen Funden und Artefakten direkt erschlossen werden. Andere Faktoren, wie etwa Lebensgeschichte und Kommunikation, lassen sich oft nur indirekt erschließen. Da die Hominisation nach wissenschaftlichen Erkenntnissen den Prinzipien der Selektion unterlag, sind die Entwicklungen der Homininen im Laufe der Evolution als stammesgeschichtlich erworbene, genetisch verankerte adaptive Veränderungen zu verstehen.

Mit den Fragen „Woher kommen wir?“, „Wer sind wir?“, „Wohin gehen wir?“ haben sich Menschen schon immer auseinandergesetzt. Neue fossile Funde und deren Auswertung auf der Grundlage von fächerübergreifender und interdisziplinärer Zusammenarbeit tragen immer wieder mit dazu bei, konkretere Antworten auf die Frage „Woher kommen wir?“ geben zu können. Sie führen aber auch zwangsläufig zu Paradigmenwechsel. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sich weitgehend darüber einig, dass Afrika die Wiege der Menschheit ist („Wir sind vom genetischen Ursprung her alle Afrikaner.“). Hier spielten sich die vier entscheidenden Phasen der Evolution der Homininen ab: die Enstehung der Vormenschen (zu denen beispielsweise die Australopithecinen zählen), der Urmenschen (Homo rudolfensis, Homo habilis), der Frühzeitmenschen (Homo ergaster, Homo erectus) und der anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens). In den tropischen Regenwäldern, die noch vor 20 Millionen Jahren den afrikanischen Kontinent weiträumig bedeckten, lebten die ursprünglichen Populationen der afrikanischen Menschenaffen und später die ersten Homininen.

Nicht nur Anthropologen bemühen sich, auf die Frage „Wer sind wir?“ Antworten zu geben. Auch in anderen Wissenschaftsbereichen, wie z.B. Ethnologie (Völkerkunde), Ethologie (Verhaltensforschung), Philosophie, Religionswissenschaft, Sozialwissenschaften versucht man im Hinblick auf diese Fragestellung Erkenntnisse zu gewinnen. Auch die moderne Primatenforschung liefert uns wertvolle Erkenntnisse, die mit dazu beitragen, das Wesen des Menschen zu charakterisieren: Es ist die „Affennatur“, die eine der Besonderheiten des Menschen ausmacht. Paläogenetisch lässt sich durch die Analyse alter DNA („ancient DNA“) aus gut erhaltenen Homininen-Fossilien und aus dem Vergleich mit der DNA heutiger Menschen belegen, dass der anatomisch moderne Mensch von seiner Entwicklungsgeschichte her ein genetisches und anatomisches Mosaik aufweist. Unsere „moderne Identität“ spiegelt das Ergebnis von zwei Millionen Jahren Migration wider.

Hervorzuheben ist, dass der Mensch sowohl Natur- als auch Kulturwesen ist. Die Evolution des Kulturwesens Mensch ist nicht zuletzt eine Geschichte der technischen Innovationen. Für den heutigen Menschen, der von seiner Entwicklungsgeschichte her Jäger und Sammler ist, ergeben sich in den modernen Gesellschaftsformen immer mehr Probleme. Daher ist die Frage „Wohin gehen wir?“ von besonderer Aktualität.

1. Die Meinungen der Gelehrten gehen auseinander

Als im Jahre 1856 bei Steinbrucharbeiten im Neanderthal bei Düsseldorf 16 Knochen in der Feldhofer Grotte entdeckt wurden, hielt man sie zunächst für die Knochen eines Höhlenbären. Der Elberfelder Lehrer Johann Carl Fuhlrott (1803–1877) jedoch erkannte, dass es sich um Überreste eines eiszeitlichen Menschen handelte. In Anlehnung an den Fundort wurde der Name Neanderthaler gewählt. [1] Der Anatom und Prähistoriker Rudolf Virchow (1821–1902), der die Zellularpathologie begründet hatte, hielt hingegen die Funde für Reste eines anatomisch modernen Menschen, dessen Knochen krankhaft verändert waren. Durch seine Autorität verhinderte Virchow über Jahrzehnte eine allgemeine Akzeptanz des Fundes in Deutschland. Fuhlrott starb 1877 verbittert und ohne Anerkennung gefunden zu haben. Virchow beharrte auf seiner Meinung und starb 1902 ohne von der Existenz des Neanderthalers überzeugt zu sein. Neben wissenschaftlichen waren auch politische Gründe für die Missdeutung der Fossilien aus dem Neandertal verantwortlich. Dieser Knochenfund war der Auslöser für international gegensätzlich geführte Diskussionen und zugleich der Beginn der Erforschung der Menschwerdung. Der Fund aus dem Neanderthal, der ein zentrales Beweisstück für die Abstammung des Menschen darstellt, brachte im 19. Jahrhundert ein jahrtausendealtes kirchliches Weltbild ins Wanken und schließlich zum Einsturz. Seine Berühmtheit verdankte der Knochenfund dem zeitlichen Zusammentreffen mit der Veröffentlichung von Charles Darwins Hauptwerk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“, das im Jahre 1859 erschien. Erst 1871 veröffentlichte Darwin sein Werk über die Abstammung des Menschen. [2]

Im Jahre 1908 wurde in einer kleinen Höhle bei La Chapelle-aux-Saints in Mittelfrankreich ein Neanderthaler-Skelett gefunden, von dem mehr erhalten war als von jedem anderen bis zu diesem Zeitpunkt. Die von dem französischen Anthropologen Marcellin Boule (1861–1942) ausgearbeitete Studie über diesen Fund („Der Alte von La Chapelle-aux-Saints“) sollte das Bild des Neanderthalers nachhaltiger beeinflussen als alle bisherigen Veröffentlichungen. Dieses Bild wies die Neanderthaler als äußerst primitive und „äffische“ Wesen aus. Moderne Untersuchungsmethoden und in Verbindung damit neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen jedoch, dass der Neanderthaler ein intelligenter Mensch auf einer relativ hohen Kulturstufe gewesen war.

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