Ludwig entwickelt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten prächtig. Anfangs hat er sich mit seinem Großvater überhaupt nicht verstanden. Er spürte die Ablehnung meines Vaters gegen Achim. Aber inzwischen hat sich das geändert. Vater hat sich etwas zurückgenommen. Es scheint ihm jetzt vor allem um Ludwigs Wohl zu gehen. Er nimmt ihn mit auf die Felder, lässt ihn das Korn prüfen, lässt ihn die Ernte schätzen und die Tagelöhner und Helfer einteilen. Nur ganz selten muss er noch eingreifen, wenn Ludwig wie ein junges Fohlen zu ungestüm ist.
Aber, und das, liebste Freundin, macht mir Sorgen, er will nicht hier bleiben. Er will nicht von seines Großvaters Gnaden das Gut verwalten. Und Max von Walther, den jetzigen Verwalter, nicht von seinem Platz verdrängen.
„ Lieber will ich unseren kleinen Hof bewirtschaften als dieses Gut. Dort bin ich mein eigener Herr“, hat er letztens gesagt. Und das hat mir, wie Du Dir denken kannst, im Innersten sehr wehgetan.
Noch etwas anderes beschäftigt mich sehr.
Du weißt, wir sind immer aus dem Raum geschickt worden, wenn die Erwachsenen, vor allem die Männer, politisiert haben.
Jetzt lässt sich das kaum noch machen. Ich bin inzwischen zu alt geworden und füge mich nicht mehr so einfach.
Seit einigen Tagen, ich spüre es ganz deutlich, hat sich etwas verändert. Ich habe meinen Vater gefragt, doch er hat nicht geantwortet. Früher hatte er immer gesagt: „Davon verstehst du sowieso nichts“, jetzt hat er nur geschwiegen.
Meine Mutter hat mir dann gesagt, es wäre etwas ganz Schlimmes passiert, man hätte den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajewo ermordet. Und es könnte durchaus Krieg geben.
Krieg! Stell Dir vor, Krieg!
Die Männer hier im Ort gebärden sich wie die Kinder. Schwenken Fahnen, singen vaterländische Lieder, treffen sich am Abend in der Wirtschaft und verteilen schon das Bärenfell, als hätten sie es gewonnen. Und mein Vater, den ich immer für so klug gehalten habe, ist in der ersten Linie. Wie gerne würde er losziehen.
„ Es gibt keinen Zweifel an unserer Treue zu Österreich, und es darf und wird nie einen Zweifel geben! Auf die Treue!“, hat er gestern Abend auf einer Versammlung bei uns im Haus ausgerufen. Ich habe weggehen müssen, so schrecklich fand ich das.
Was denken diese Menschen, die so den Krieg herbeisehnen? Der Krieg erscheint ihnen wie ein Abenteuer, aus dem sie jederzeit nach Hause zurückkehren können. Arme Menschen! Ich wünsche uns allen, dass sie sich nicht irren.
Nun bin ich mir doch untreu geworden. Ich wollte Dich nicht belasten und habe es ganz sicher getan. Sei mir nicht bös! Noch können wir hoffen, dass alle Sorgen umsonst sind, dass das nur die überspannten Gedanken einer jungen Witwe waren.
Nimm Deine Kinder in den Arm und küsse sie. Umarme vor allem Deinen Mann! Halte ihn fest, und bete zu Gott, dass Du ihn immer behältst.
Deine Luise
Dollien, August 1914
Den ganzen Nachmittag war Luise mit den Kindern an einem der vielen kleinen Seen gewesen, die zu dem Gut gehörten. Sie liebte diesen Platz, eine Wiese am Rande eines kleinen Kiefernwaldes. Wie eine Halbinsel streckte sich diese Badestelle in das klare Wasser.
Vor Jahren, als sie noch Kinder waren, hatte ihr Vater hier eine Badehütte und einen Bootssteg bauen lassen, hatte dann aber kaum Zeit gefunden, mit seiner Familie hier die Sommernachmittage zu verbringen. Mag auch sein, dass ihn nur die Ruhe langweilte. Luise sah ihn noch vor sich, wie er steif und schweigend auf der Decke saß, vollkommen bekleidet, einen Strohhut auf dem Kopf. Ein schreiend stiller Vorwurf.
Irgendwann hatte es ihrer Mutter gereicht.
„Du musst nicht mitkommen“, hatte sie gesagt, „du verdirbst uns nur den Spaß.“
Er war dankbar – und sie genossen von nun an die Nachmittage allein
***
Als Luise die Halle betrat, fiel ihr sofort die ungewohnte Betriebsamkeit auf. Die Köchin, die um diese Zeit grundsätzlich in der Küche zu tun hatte, und sich bisher immer erfolgreich dagegen gewehrt hatte, irgendwelche Aufgaben außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches zu übernehmen, kam von der Galerie geeilt, verschwand im Arbeitszimmer und lief gleich wieder nach oben.
Hans, der erste Knecht, hastete ins Arbeitszimmer, empfing irgendeinen Befehl und verschwand in der Remise.
„Was um alles in der Welt ist hier los?“, wandte sie sich an die erste, die sie anhalten konnte.
„Krieg! Wir haben Krieg!“, rief die alte Wirtschafterin und verschwand im Wirtschaftsraum.
Langsam ging Luise durch die Halle und trat in den Salon. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ihre Mutter und sah aus dem Fenster. Sie schien sie nicht bemerkt zu haben, jedenfalls sagte sie nichts und sah sich auch nicht um.
Endlos lange schien sie so zu stehen, völlig erstarrt, die Arme an den Körper gepresst, die Hände zu Fäusten geballt.
Luise durchzuckte ein Gedanke, der sie erschrecken ließ. Zum ersten Mal nach Achims Tod bedauerte sie die Frauen, deren Männer noch am Leben waren.
„Muss Vater?“ Sie war zu ihrer Mutter getreten.
„Nein, noch nicht. Er muss sich nur in Bereitschaft halten. Aber deine Brüder, alle drei.“
Es war erstaunlich. Obgleich die ganze Welt mit Deutschland im Krieg lag, änderte sich in Dollien nichts. Zuerst hatten die Kriegserklärungen Deutschlands die Straßen gefüllt, hatten den Kriegerverein mobilisiert, hatten ein Meer von schwarz-weiß-roten Fahnen an die Häuser gezaubert, die die Schäbigkeit der meisten Fassaden mit ihrer vaterländischen Euphorie übertünchten.
Jetzt war man Deutscher.
Mehr noch, man war Nibelunge.
Glücklich schätzte sich der, der in dieser Zeit lebte, vor allem der Mann, der das Glück hatte, für Kaiser und Vaterland in den Krieg ziehen zu dürfen.
Luise sah diese Kinder.
Kinder waren es in ihren Augen, die sich auf dem Marktplatz versammelten und darauf warteten, nach Friedrichswalde gefahren zu werden, um dann in den Zug nach Potsdam oder Berlin zu steigen.
An den Haaren hätte sie sie von den Wagen wegziehen mögen, sie ohrfeigen, bis sie ganz kleinlaut zu ihren Müttern zurückkehren würden.
Sie wusste, sie könnte es nicht. Und wenn sie es versuchen würde, sie anschreien würde, dass der Krieg kein Kinderspiel wäre, dass sie alle sterben würden, nein, krepieren würden, den Mund voll gestopft nicht mit französischer Ente, sondern französischer Erde, Dreck und Schlamm, es würde nichts nützen.
Schon sangen sie, siegestrunken, ihre vaterländischen Lieder.
Wo hatten sie die so schnell gelernt? Luise konnte sich nicht erinnern, von ihren Kindern gehört zu haben, dass man sie in der Schule eingeübt hatte. Text und Melodie.
Und immer wieder schallte es: „Weihnachten sehen wir uns wieder!“
Bis der Apotheker und Leiter des Männergesangsvereins nach vorne trat, die Sänger Aufstellung nahmen und das schreckliche Lied „Heil dir im Siegerkranz“ intonierten.
Was bringt erwachsene Männer nur dazu, solchen Schwachsinn zu singen? fragte sie sich. Aber da sah sie die leuchtenden Gesichter der Sänger, die strahlenden Augen der jungen Männer auf ihren Karren, die sie – sie stockte, wollte den Gedanken verdrängen, vergeblich, er kehrte immer wieder – zum Schafott bringen sollten.
Weg, weg von hier!
Sie floh von diesem Platz, weg von dieser grauenhaften Fröhlichkeit.
Am Gasthaus „Unter der Linde“ hatte sie ihr Pferd festgebunden. Eilig band sie es los, bestieg den Landauer und fuhr durch die weiten Felder zurück zum Gutshaus.
Das Korn war schon fast reif, goldgelb hob es sich vom blauen Himmel ab, an dem sich nur einige Schönwetterwolken aufplusterten.
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