„Wann kommen sie denn ungefähr in Essen an?“, wollte ich noch von ihm wissen und Wim teilte uns die Abfahrtszeit ihres Zuges von der Centraal Station mit, der Zug wäre nach zwei Stunden Fahrt in Essen, „vielleicht könnt ihr sie am Bahnhof abholen!“, schlug Wim vor und Werner und ich gaben unser Okay. Am Abend setzten Gaby und ich unser lange gehegtes Vorhaben, mit Elke und Werner etwas Gemeinsames zu unternehmen, in die Tat um und fuhren mit ihnen nach Borbeck zum Jugoslawen in der Rechtstraße.
Das war ein Restaurant, das wir schon früher immer aufgesucht hatten und wo wir immer gut bedient worden waren, man kannte uns dort und begrüßte uns herzlich, als wir das Lokal betraten. Die Besitzer hatten sich bemüht, ihrem Lokal im Innern etwas vom Hauch eines mediterranen Ambientes zu geben und die Wände mit Sichelputz verziert, künstliche Weintrauben als Dekoration aufgehängt, Karrenräder und Mistgabeln an die Wände gebracht und sie mit Bildern mit Sonnenuntergängen versehen. Ich wusste aber dennoch, dass wir im Herzen Borbecks waren und auch der dritte Slivowitz konnte mich nicht dazu bringen, mich in Jugolsawien zu wähnen, das im Übrigen längst nicht mehr existierte. Wir fühlten uns aber immer sehr gut im „Zadar“ aufgehoben und die Besitzer taten ihr Bestes, um uns in diesem Gefühl zu belassen. Jossip und Branca, wir duzten uns längst und waren wohl auch in etwa im gleichen Alter, setzten sich mit an unseren Tisch und wir tranken alle einen Slivovitz, anschließend winkte Jossip den Kellner herbei und wir suchten uns etwas aus der Speisekarte aus. Wir nahmen in den letzten Jahren immer das Gleiche und brauchten deshalb überhaupt keine Speisekarte, überflogen aber dennoch das Angebot. Am Ende bestellte ich Balkanleber, das war gegrillte Leber mit Pommes Frites, Djuwetsch-Reis und Krautsalat.
Zu Hause gab es bei uns nie Leber, weil weder Gaby noch die Kinder Leber aßen. Wir saßen lange im „Zadar“ und ich sagte:
„Wir treffen am nächsten Tag die Eltern des Mordopfers aus Amsterdam, ich will sie zu uns einladen und ihnen den Aufenthalt in Essen so angenehm wie möglich gestalten. Ich schlage vor, dass wir alle zusammen mit ihnen einen Ausflug zum Baldeneysee unternehmen“ und Elke und Gaby waren einverstanden. Im Laufe des Abends kam unser Gespräch noch auf unsere Kinder und Elke sagte, dass ihr ihr Älterer ein wenig Sorgen bereitete, weil er in der Schule so stark nachgelassen hätte, das Gleiche berichtete Gaby von unserem Älteren, bei dem es in der Schule ähnlich aussah.
„Man kann nicht alles auf die Pubertät abschieben“, sagte Elke, „aber die Pubertät trägt wohl einen Großteil der Schuld am Versagen unserer Kinder“ und Gaby gab ihr Recht. Werner und ich meinten, dass man aber nicht machtlos davorzustehen brauchte, sondern den Kindern Hilfestellung geben müsste, auch wenn sie herumzickten und ein großes Maul hätten, man dürfte sie nicht hängenlassen und müsste sie auffangen. Am späten Abend verabschiedeten wir uns von Jossip und Branca per Handschlag bis zum nächsten Mal, zahlten und verließen das „Zadar“ wieder. Nachdem Werner und ich ordentlich getankt hatten, hatte Gaby sich bereiterklärt, zu fahren, sie hatte nur Wasser getrunken und sich beim Slivovitz zurückgehalten.
Vor Elkes und Werners Haustür verabschiedeten wir uns voneinander und verblieben so, dass wir uns melden wollten, wenn wir zum Baldeneysee führen. Am nächsten Morgen verabredeten Werner und ich unsere weitere Vorgehensweise, wir schlossen nicht aus, dass wir auch einmal nach Mexiko fliegen würden, wir wollten aber das Gespräch mit Conchitas Eltern abwarten. In uns beiden verfestigte sich die Überzeugung, dass der Mörder in irgendeiner Weise mit Conchitas Bekanntenkreis in Kontakt gestanden haben musste, ohne dass wir sagen konnten, worauf diese Überzeugung fußte, vielleicht täte sich ja in Mexiko eine Spur auf? In der Mittagspause saßen wir mutlos in der Kantine und erwiderten missmutig die Grüße vorbeilaufender Kollegen, die sich verwundert umdrehten. Gegen 15.15 h mussten wir am Hauptbahnhof sein, um Conchitas Eltern in Empfang zu nehmen, wir würden Camilla mitnehmen und hatten vorher dafür gesorgt, dass sie für die Zeit, in der sie Conchitas Eltern betreute, frei bekäme. Gleich nach der Mittagspause liefen wir zu ihr hin und bereiteten sie auf den Empfang von Senora und Senor Gutierrez vor. Wir fuhren um 14.30 h zum Hauptbahnhof und parkten im Parkhaus auf der Südseite, anschließend liefen wir ins Bahnhofsgebäude und hatten noch zwanzig Minuten Zeit, die wir vor vor dem Bistro an den Bahnsteigaufgängen bei einem Cappuccino verbrachten. Der Hauptbahnhof machte inzwischen einen gepflegten Eindruck, nachdem er wegen des Kulturhauptstadtjahres von Grund auf renoviert worden war. Um 15.05 h liefen wir auf den Bahnsteig und beobachteten das hektische Treiben, ich erinnerte mich, wie ich als Kind mit Eltern und Bruder von dort in den Schwarzwald gefahren war, mit dem Dampfzug!
Um 15.15 h kam die Durchsage, dass sich der ICE aus Amsterdam um fünfzehn Minuten verspäten würde. Die dauernden Zugverspätungen hatte es früher nicht gegeben und ich hatte auch keine Erklärung dafür parat, auf dem Bahnsteig machte sich Unmut breit, und es wurde laut geschimpft. Um 15.30 h traf aber der Zug ein, und wir schauten uns gespannt die aussteigenden Fahrgäste an.
Conchitas Eltern in Essen
Die beiden älteren Fahrgäste aus Mexiko waren nicht zu übersehen, Senor Gutierrez zog zwei Trolleys hinter sich her und Senora Gutierrez hatte etwas Handgepäck. Camilla, Werner und ich liefen auf sie zu, stellten uns vor und hießen die beiden herzlich in Essen willkommen, wir gaben ihnen die Hand und kondolierten ihnen zum Tod ihrer Tochter. Sie sahen uns mit leeren Augen an, freuten sich aber, dass wir sie abholten. Werner und ich kümmerten uns um die Koffer und Camilla fragte gleich, ob sie eine angenehme Zugfahrt gehabt hätten. Conchitas Eltern antworteten, dass sie in Mexiko nie mit dem Zug führen, sie würden immer fliegen, wenn sie weitere Strecken zurücklegen müssten, aber dieser Zug wäre unglaublich komfortabel und schnell gewesen.
„Haben Sie Lust, mit uns Kaffee trinken zu gehen?“, ließ ich die beiden über Camilla fragen und sie hatten beide große Lust dazu. Werner und ich brachten das Gepäck ins Parkhaus zum Auto und wir liefen anschließend ein Stück die Kettwiger Straße hinunter, bis wir zum „Cafe del Sol“ kamen und uns davorsetzten. Es war warm und man konnte es gut draußen aushalten, die beiden Alten, Camilla und ich gingen hinein und suchten für jeden ein Stück Kuchen aus, wir bekamen einen Zettel mit einer Nummer und liefen wieder hinaus, Senora Gutierrez wunderte sich über diesen Brauch. Werner hatte draußen auf uns gewartet und unseren Tisch freigehalten. Wir bestellten alle Kaffee, und mit dem Kaffee wurde uns auch der ausgesuchte Kuchen gebracht, den Senora Gutierrez ausgezeichnet fand. Camilla fragte die beiden Alten, wie lange sie schon in Amsterdam gewesen wären und sie antworteten, dass sie vor zwei Tagen dort gelandet wären. Ich nahm mein Handy und rief Lupita an, ich sagte ihr, dass wir mit Conchitas Eltern im „Cafe del Sol“ säßen und in einer Stunde alle bei ihr erscheinen wollten, die Eltern wollten schließlich sehen, wo ihre Tochter gelebt hatte. Wir liefen nach dem Kaffeetrinken zum Bahnhofsparkhaus, stiegen in meinen Wagen und fuhren zum Viehofer Platz. Wir parkten wieder am City Hotel und liefen über die Fußgängerampel bis zum „Cafe Nord“.
Ich schellte und Lupita öffnete die Wohnungstür, als sie Conchitas Eltern sah, fielen sie sich gegenseitig in die Arme und begannen zu weinen, wir ließen sie, denn das war ein Bedürfnis, das befriedigt werden musste, Camilla, Werner und ich sahen uns an und hätten beinahe mitgeweint. Schließlich gingen wir in die Küche und Lupita bot allen ein Wasser an, das wir gerne nahmen, bevor Lupita Conchitas Eltern in das Zimmer ihrer ehemaligen Freundin führte. Senor Gutierrez betrachtete die Fotos an der Wand und verharrte vor dem einen oder anderen Bild, auf dem er seine Tochter sehen konnte, wie sie fröhlich und ausgelassen war, er zückte sein Taschentuch und rieb sich die Augen. Senora Gutierrez saß auf dem Schreibtischstuhl ihrer Tochter und kam ins Sinnieren, sie blickte starr aus dem Fenster. Ich sagte ihr:
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