„Dann hätten wir sie uns einfach genommen“, erwiderte Alex trotzig.
„Und bei dem Versuch, das Haus zu verlassen, unser Leben verloren“, entgegnete Liam kopfschüttelnd.
„Immer noch besser als weiter auf sein Wohlwollen angewiesen zu sein“, beharrte Alex noch immer wütend, doch sein Zorn begann allmählich zu verrauchen.
„Das meinst du doch nicht ernst“, fuhr Liam ihn an, nun seinerseits aufgebracht. Er hatte nicht all die Jahre für den Gouverneur gearbeitet, wenn auch gegen seinen Willen, um jetzt doch noch zu sterben.
Durchdringend sah er seinen Bruder an, der ihn ebenso scharf fixierte. Dann wandte er plötzlich niedergeschlagen den Blick ab.
„Du hast Recht, Liam. Es tut mir leid. Ich… Ich bin nur so enttäuscht.“
„Ich weiß, Alex. Das bin ich auch“, erwiderte Liam.
Versöhnlich legte er seinem Bruder eine Hand auf den Arm und drückte ihn leicht. Nach einem kurzen Moment legte Alex seine andere Hand auf Liams und lächelte seinen Bruder an.
„Gut, dann lass uns noch diesen letzten Auftrag erfüllen und dann beginnen wir ein neues Leben.“
Liam erwiderte lächelnd den Blick seines Bruders. Das würden sie. Und sollte der Gouverneur sich dann nicht an ihre Abmachung halten würde er nicht nur seine Ehre, sondern auch sein Leben verlieren. Das schwor sich Liam.
Noch konnte er nicht ahnen, dass dieser letzte Dienst, den der Gouverneur von seinem Bruder und ihm verlangen würde, weit schwieriger war als jeder andere zuvor.
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Es lag bereits einige Jahre zurück. Alex und Liam waren noch sehr jung gewesen. Und sie waren Piraten gewesen – waren es vielleicht noch immer. Mit ihrem Schiff und ihrer Crew aus tapferen, kampferprobten Männern hatten sie die karibische See unsicher gemacht. Besonders Liams Name war in aller Munde gewesen. Kaum ein Seefahrer hatte nicht von Liam Blue Shadow Moore gehört gehabt. Und Liam war stolz darauf gewesen, wenngleich es ihm und seinem Bruder schließlich zum Verhängnis geworden war. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich sein Piratenname Blue Shadow etabliert gehabt hatte. Blue wegen seiner bestechend dunkelblauen Augen, die wohl niemand, der einmal ihren Blick erwidert hatte, so schnell wieder vergaß. Und Shadow weil Liams Angriffe immer schnell, gezielt und unaufhaltsam gewesen waren, jedoch ebenso schattenhaft und meist schnell vorüber. Obwohl er selbst nur selten gesehen wurde war sein Stil doch unverkennbar und sein Ruf eilte ihm voraus unter den Seefahrern.
Da ihre Überfälle stets präzise geplant gewesen waren hatten Liam und Alex es innerhalb kürzester Zeit zu beträchtlichem Reichtum gebracht. Nach außen hin hatten sie ein scheinbar ganz normales Leben als Kaufleute geführt und sich ihren Reichtum nicht anmerken lassen.
Liams Schiff hatte an einem verborgenen Ankerplatz gelegen, der nur seiner Crew bekannt gewesen war. Und seine Crew, alles erfahrene, raue Männer, war stets verlässlich gewesen. Liam und Alex hatten ihnen voll vertrauen können. Ihre Männer hatten allen Widrigkeiten getrotzt, waren tapfere Kämpfer gewesen, die trotz ihres Piratendaseins ein gewisses Maß an Ehre behalten hatten. Darauf hatte Liam großen Wert gelegt. Denn wenngleich sie als Freibeuter und damit Gesetzlose gelebt hatten gab es doch einige Regeln und Werte, die es zu beachten galt. Daher hatten Alex und er die Crew mit großer Sorgfalt ausgewählt. Nur bei jenem schicksalhaften letzten Coup war ihnen ein furchtbarer Fehler unterlaufen und sie waren verraten worden.
Nur noch ein Mal hatten sie in See stechen wollen. Ihr Plan war perfekt gewesen. Sie hatten den Spaniern einen gigantischen Schatz abgejagt, wodurch sie und ihre Männer für immer ausgesorgt gehabt hätten. Und das war auch Liams und Alex‘ Plan gewesen. Sie hatten ihr Piratendasein beenden und sich zur Ruhe setzen wollen um ein neues, ehrliches Leben zu beginnen, wenn auch mit durch Piraterie erlangtem Reichtum. Doch das wäre nur durch diesen letzten Überfall möglich gewesen. Es hatte auch den Anschein gehabt, alles verliefe nach Plan, doch kurz bevor sie in See stechen wollten waren einige ihrer Männer erkrankt. Sehr ernst erkrankt. Später hatte Liam herausgefunden dass sie vergiftet worden waren, doch das war ihm zu jenem Zeitpunkt nicht klargewesen. Da ihnen die Zeit davonlief und sie nur eine einzige Chance hatten, den Spaniern den Schatz abzujagen, hatten sie handeln müssen. Trotz ihrer eigenen Vorbehalte hatten Liam und Alex sich nach Ersatz für die erkrankten Männer umgesehen und auch willige Matrosen gefunden. Liam war es von Anfang an nicht recht gewesen, Männer anzuheuern über die er so gut wie nichts wusste, doch die Zeit drängte und schließlich hatte er Alex zugestimmt und sie hatten die Männer an Bord genommen. Natürlich hatten sie die Männer nur mit einfachen Aufgaben betraut und kritisch im Auge behalten. Dennoch hatten sie nicht verhindern können dass einer von ihnen sie an die Spanier verraten hatte.
Liam hatte Alex nie einen Vorwurf gemacht, doch er hatte sich selbst mehr als einmal wegen seiner unvorsichtigen Handlung und letztendlich aus Habgier falsch getroffenen Entscheidung gegrämt. Er hätte nicht so fixiert auf diesen Schatz sein dürfen und abwarten müssen. So jedoch hatte er seine Crew, vor allem aber seinen Bruder und noch mehr sich selbst in Gefahr gebracht.
Schon nach ihren ersten Tagen auf See hatte Liam ein ungutes Gefühl beschlichen, doch er hatte noch nicht zuordnen können weshalb. Nach ihrem Überfall auf die spanischen Schatzkammern auf einer von den Spaniern exzellent bewachten kleinen Insel mitten in der karibischen See wurde Liam schließlich klar, dass sie verraten worden waren. Als er endlich herausfand, wer sie verraten hatte war es jedoch bereits zu spät und die Spanier hatten schon die Verfolgung aufgenommen. Der Mann der sie verraten hatte, einer der Neuen , hatte alles gestanden und Liam hatte kurzen Prozess mit ihm gemacht. Dennoch hatte das nichts mehr an der Tatsache ändern können, dass die Spanier unaufhaltsam näher gekommen waren. Sie hatten Liam mit einer kleinen Armada verfolgt und Liam war schnell klar gewesen, dass sie dieses Mal nicht entkommen konnten, wenngleich ihnen das in der Vergangenheit mehrfach geglückt gewesen war. Sein Schiff war gut – schnell und wendig – doch die Spanier waren gut vorbereitet gewesen und Liam hatte keine Chance gesehen.
Schließlich hatte er sich dazu entschlossen, sich zu ergeben um seine Crew und damit auch seinen Bruder zu schützen. Denn ihm war klar gewesen, dass die Spanier es vor allem auf ihn abgesehen hatten. Unter allen Umständen hatte er ein Blutvergießen verhindern wollen. Alex hatte ihn zuerst von seinem Entschluss abbringen wollen denn er hatte gefürchtet, dass dies Liams sicherer Tod sein würde. Liams Entschluss hatte jedoch festgestanden und er hatte sich nicht umstimmen lassen. Dennoch hatte er kurz vor seiner Auslieferung an die Spanier dafür gesorgt dass der größte Teil des Schatzes von Bord und in ein sicheres Versteck gebracht wurde, sodass nicht alles umsonst gewesen wäre. Nur einen kleinen Teil des Goldes hatten sie an Bord gelassen um die Spanier vom Rest des Schatzes abzulenken.
Als sie schließlich auf die Spanier getroffen waren, war Liams Plan dennoch nicht ganz aufgegangen. Obwohl er selbst sich stellte waren die Spanier mit diesem Opfer nicht zufrieden. Um Liams Crew zu verschonen verlangten sie, dass auch Alex sich ergab. Und das Schiff sollte ebenfalls beschlagnahmt werden. Liam war nicht glücklich gewesen über diese Wendung, doch die Spanier waren ihnen zahlenmäßig weit überlegen gewesen und hatten nicht mit sich handeln lassen. So hatte er schließlich eingewilligt und wenigstens seine Crew vor einem aussichtslosen Kampf bewahren können.
Liam hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass dies sein und Alex‘ Todesurteil war, denn es war weithin bekannt was mit gefassten Piraten geschah. Meistens bekamen sie nicht einmal einen fairen Prozess, wobei Liam dieser zugesichert worden war.
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