Hans Müller-Jüngst - Priese

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Priese ist zunächst seines Lebens überdrüssig und flieht eines Tages vor seinem Alltag nach Hamburg an die Landungsbrücken. Dort wird er wie in Trance in 50 Lebensfelder geführt, um Ausschau nach dem Sinn des Lebens zu halten. Am Ende fidet er sich anexakt der gleichen Stelle in Hamburg wieder und ist geläutert.

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Priese hatte seinen Inselaufenthalt in zweierlei Hinsicht genossen, er hatte in Erinnerungen geschwelgt und er hatte eine nette Familie kennengelernt. Herberts Familie war schon irgendwie typisch: Nina, er und die Kinder waren doch sehr unerfahren, was den Urlaub anbelangte, sie gaben sich sehr zurückhaltend und überließen fast jede Initiative Priese. Der wiederum glaubte manchmal, sich zu sehr aufzudrängen und versuchte sich zurückzunehmen. Die Urlaubsfamilie jedenfalls hatte das Ziel zu entspannen und von der Hektik des Alltags auszuruhen.

Beim BVB

Priese hörte das laute Geschrei der BVB-Fans und blickte in völlig verzerrte Gesichter, die, je nach Spielverlauf, von Heulen zu Jubel wechselten und umgekehrt. Er sah über die Köpfe von mehr als 80000 Zuschauer hinweg und war fassungslos, aber so viele Zuschauer fasste das Signal-Iduna-Park-Stadion und war damit das größte Fußballstadion bundesweit. Von oben sahen die Zuschauer aus wie eine wogende Masse, die ab und zu eine La-Ola-Welle durch das Stadion laufen ließ.

Die Welle wurde vom Stadion-Sprecher akustisch verstärkt und ehe sich Priese versah, war er Teil der Welle und erhob sich von seinem Stadionsitz und setzte sich wieder, bis die Welle einmal um das gesamte Stadion gelaufen und erneut bei ihm angekommen war. Der BVB spielte gegen den FC Bayern München in der Signal-Iduna-Park-Arena, und es waren laut Stadionuhr nur noch wenige Minuten bis zum Anpfiff. Priese saß weitab vom Bayern-Block, darauf achtete man schon seitens des Kartenverkaufs, dass die Fan-Blöcke voneinander getrennt waren und an den Nahtstellen ein verstärktes Polizeiaufgebot zu finden war. Diese Nahtstellen waren neuralgische Orte, an denen man sich nicht so gerne aufhielt, denn es drohte immer eine Schlägerei zwischen den verfeindeten Fans. Die Begegnung BVB-FC Bayern München war seit jeher ein brisantes Aufeinandertreffen in der deutschen Fußballoberklasse, und sie wurde deutschlandweit und auch weltweit von geschätzten 80 Millionen Zuschauern am Fernseher verfolgt. Es spielten so bekannte Spieler wie Bürki, Bartra, Götze uind Schürle bei Dortmund und Lewandowski, Müller, Ribery und Boateng bei Bayern, wobei eigentlich auf beiden Seiten noch mehr Namen genannt werden müssten. Es war die 115. Begegnung zwischen beiden Mannschaften, und Dortmund wollte unbedingt in der Tabellenspitze bleiben, die Mannschaft lag 3 Punkte hinter Bayern auf dem 3. Platz der Tabelle. Um 18.30 h war Anpfiff in der Signal-Iduna-Park-Arena, und in der ersten Dortmunder Attacke rammte Götze Ribery zur Seite. Priese sah zum Bayern-Block und machte ein wütendes Geraune aus, das von wilden Wortgefechten der einen mit der anderen Seite begleitet wurde. Die Polizei versuchte zu schlichten, war natürlich aber, trotz starker Präsenz, in der Unterzahl, es bliebe abzuwarten, wann es zu Handgreiflichkeiten käme.

Wenn Ribery in Ballbesitz war, ertönten Pfeifkonzerte von den Rängen, sehr beliebt schien der Franzose nicht zu sein. Hummels, ein ehemaliger Dortmunder und jetzt bei Bayern, erhielt den Ball und erntete prompt wüste Pfiffe von den Dortmund-Fans. In der 7. Minute beging Lewandowski ein Stürmerfoul an Sokratis und bekam ein gellendes Pfeifkonzert zu hören, was den Polen allerdings kaum störte. Priese fand das Spiel ausgesprochen spannend und sah sich um: sehr viele BVB-Fans trugen Schals in Mannschaftsfarben, alle waren voll konzentriert und blickten auf das Spielfeld. Dort war weder von Götze noch von Aubameyang etwas Nennenswertes zu sehen, bis in die 11. Minute hinein: Götze passt flach im Zentrum zum völlig frei stehenden Aubameyang, der hielt im Fallen den linken Fuß rein und drückt den Ball so über die Torlinie - 1:0 für Dortmund. Priese musste sich beinahe die Ohren zuhalten, alle sprangen hoch, schrien, lagen sich in den Armen und jubelten, und das in einer unbeschreiblichen Lautstärke. Eine Ausnahmesituation, in der die Beteiligten Urschreie von sich gaben, wie sie sie sonst niemals in ihrem Alltagsleben von sich geben konnten, die Situation bot Gelegenheit, Trieben aus der Frühzeit der menschlichen Entwicklungsgeschichte zur Geltung zu verhelfen. Nachdem sich die euphorische Hochstimmung wieder gelegt hatte, und das Spiel längst wieder angepfiffen war, traute Priese sich, seinen Nachbarn zu fragen:

„Bist Du schon lange BVB-Fan?“

Der Sitznachbar hielt seinen Blick auf das Spielgeschehen gerichtet, antwortete aber:

„Meine ganze Familie ist schon seit Jahrzehnten Vereinsmitglied, meine Kinder sitzen auch irgendwo in der Arena!“ Nach einer Weile fragte Priese seinen Sitznachbarn zur anderen Seite:

„Bist Du schon lange BVB-Fan?“ und erntete bei ihm aber böswillige Abwehr:

„Lass mich doch mit solchen dummen Fragen in Ruhe, ich will mir das Spiel ansehen!“, und Priese hielt sich zurück. Er sah zum Bayern-Block, und da gab es fast ausschließlich versteinerte Gesichter, und niemand schien zu einer Regung fähig. Die Bayern lavierten nach ihrem Rückstand herum und gewährten zu viele Freiräume, Kimmich versuchte einen Angriff halbrechts, scheiterte aber an einem Dortmunder. Sokratis und Bartra riegelten ihren Strafraum ab und ließen keinen bayrischen Angriff durch, den Münchnern fiel nichts Weltbewegendes ein. Hummels schoss den Ball zu Lewandowski, der aber im Abseits stand. Ribery erhielt plötzlich etwas Raum im Mittelfeld, aber Sokratis stellte sich ihm entgegen und ließ ihn scheitern, der Grieche entwickelte sich während des gesamten Spiels zu einer Schlüsselfigur. In der 1. Hälfte waren die Dortmunder taktisch überlegen, die Bayern kamen immer druckvoller, stellten aber nie eine Torgefahr dar.

Priese ging in der Halbzeit eine Bratwurst essen und stellte sich neben mehrere Bayern-Fans, die auch an den Bratwurststand gekommen waren. Er bekam mit, wie sauer die Bayern auf die Dortmunder waren und ihnen gegenüber weniger schöne Bemerkungen abgaben. Fast wäre es am Bratwurststand schon zu einer Schlägerei gekommen, wenn nicht auch dort schon die Polizei gestanden und solche Ausschreitungen zu verhindern gewusst hätte. Gleich zu Beginn der 2. Hälfte bekam Aubameyang die Chance zum 2:0, scheiterte aber an Boateng und Neuer. Die Bayern wurden insgesamt aggressiver, am Ende fehlte aber immer das nötige Quäntchen Glück. Priese hatte sich am Ende der Halbzeit in den Gang zwischen den Dortmund- und den Bayern-Fans begeben und sich ganz oben auf die Stufen gesetzt, das wurde von den Polizisten nicht so gern gesehen, man ließ ihn aber. Er bekam so mit, wie sich das Klima zwischen den Fan-Blöcken immer mehr aufheizte. Direkt vor ihm warf ein Bayer eine leere Bierdose in den Dortmunder Block. Die Quittung war ein Retourwurf gegen die Bayern und so spitzte sich die Situation zu, die die Polizei anfangs noch im Griff hatte, die aber nach und nach dermaßen eskalierte, dass die Polizei, obwohl inzwischen weitere Kräfte hinzugezogen worden waren, dazu überging, einzelne Randalierer aus beiden Blöcken abzuführen und so die Lage zu entschärfen. In der 55. Minute schlenzte Müller den Ball zu Ribery, der ihn mit der Hacke ins Tor lancierte, er stand aber im Abseits, und es wurde abgepfiffen. Die Münchner begannen, das Spiel zu dominieren und machten immer mehr Druck, es fehlte aber immer noch der geniale Abschluss.

Vor Priese spitzte sich die Lage so zu, dass er überlegte, seinen Platz ganz oben zwischen den Blöcken zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Polizisten hatten mittlerweile ihre Schlagstöcke in der Hand und schlugen auch vereinzelt zu. Es entstand ein heilloses Gewusel, in dem die Polizisten unterzugehen drohten, Gruppen aus beiden Blöcken gingen aufeinander los und behakten sich. Priese war Augenzeuge, wie ein Dortmunder von 3 Bayern in die Mangel genommen wurde und Schläge einstecken musste, die vor allem gegen seinen Kopf gingen. Immer wieder schlugen die Bayern gegen seinen Kopf, bis der Dortmunder regungslos zu Boden ging. Herbeigerufene Sanitäter kümmerten sich um den Verletzten und trugen ihn fort. Dortmunder, die das Spektakel mitbekommen hatten, nahmen sich die 3 Münchner vor, wurden aber ihrerseits von anderen Münchnern angegangen. Inzwischen wurde auf dem Spielfeld in der 90. Minute eine 4minütige Verlängerung angezeigt, und Lewandowski und Müller liefen noch einmal zu Höchstform auf, konnten aber den Ball nicht über die gegnerische Strafraumlinie bringen. So verschwanden die Spieler in den Katakomben und ließen ein wütendes Bayernpublikum zurück. Während sich die Reihen in der Signal-Iduna-Park-Arena langsam zu lichten begannen, war die Schlägerei vor Priese noch nicht beigelegt. Die Polizei forderte über Megafone dazu auf, zur Ruhe zu kommen und das Stadion zu verlassen.

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