1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 „Wie geht’s dem Mädchen?“
Silvester wirft einen Blick unters Bett, wo sie sich versteckt hat.
„Sie hat Schnupfen.“
„Wie hat sie denn das geschafft bei der Hitze?“
„Der Tierarzt sagt, sie hat einen Zug gekriegt. Ist nicht weiter schlimm.“
„Und jetzt?“
„Ich gebe ihr Vitamine und sage ihr jeden Abend, dass sie gesund wird. Mama meint, das hilft ihr.“
Er greift unters Bett und zieht die kleine Schildkröte hervor. Sie sieht aus wie immer.
Ich beuge mich zu ihr herunter. „Hallo Polly. Was machst du für Sachen, altes Haus?“
„Polly ist doch noch gar nicht alt. Erst zwei. Sie kann über vierzig werden. Älter als du, Papa!“
„Ich dachte, Schildkröten werden über 100.“
„Polly nicht. Die Rasse wird nicht so alt. Ist ja auch besser so bei einem Haustier.“
Er macht ein vernünftiges Gesicht und setzt sie zurück auf den Boden. Wir beobachten, wie sie langsam unter das Bett kriecht. Mir fällt auf, dass Silvester wieder ein Stück älter aussieht, erwachsener. Seine dicken, braunen Haare fallen ihm in die Augen. Seit einiger Zeit will er sie nicht mehr schneiden lassen. Larissa macht mich und meinen „Pennerlook“ dafür verantwortlich.
„Möchtest du sie nicht ins Terrarium setzen, wenn du über Nacht weg bist?“
„Ach nö, das kann Mama machen.“
Ich muss lachen. Larissas Freund baut extra ein Terrarium, damit die Schildkröte nicht überall hin kackt und Silvester benützt es nicht.
Als wir losgehen, steht Larissa mit verschränkten Armen an der Tür. „Was macht ihr heute noch?“
„Wir gehen in den Zooooo“, ruft Silvester aus dem Treppenhaus.
„Schon wieder?“ Larissa schaut ihm hinterher. Sie sieht blass aus.
Ich gehe Silvester hinterher. „Mal sehen. Vielleicht fahren wir auch an den See.“
„Nee. Zooooo!“
Silvester ist schon eine Treppe nach unten gerannt.
„Du meldest dich morgen, ja?“ Larissa schaut mich mit besorgter Miene an.
Ob es an mir liegt oder ob sie generell besorgt ist, kann ich nicht sagen. Ich gebe ihr einen Kuss und renne meinem Sohn hinterher.
Im Supermarkt treffen wir auf Mayas Schwester. Während Silvester nach den „richtigen Cornflakes“ sucht, erzählt sie mir, dass Maya gerade bei ihr übernachtet.
„Jesse war mal wieder verschollen und sie schläft momentan so schlecht. Alpträume.“
Alice wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, dann wendet sie sich dem Regal neben uns zu. Das Wort „Alpträume“ hängt unheilschwanger in der Luft. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, aber das mag sie nicht. Sie wird nicht gerne von anderen Leuten berührt. Vor allem nicht von Rauchern und Leuten mit Bart. Ihre spröde Ernsthaftigkeit sorgt immer wieder für Erheiterung bei Maya und Jesse. Mich hingegen zieht sie runter.
Während Alice mit mir spricht, sieht sie sich ganz konzentriert die Nudeln an. Zum hundertsten Mal wundere ich mich darüber, wie sehr sich die Schwestern gleichen und gleichzeitig so unterschiedlich aussehen. Alice hat dieselbe Haar- und Augenfarbe wie Maya, denselben gelblichen Hautton, dieselbe runde Gesichtsform. Aber sie wirkt älter, härter und ängstlicher. Um ihren Mund hat sie einen besorgten Ausdruck, den ich von Maya nur kenne, wenn sie verkatert ist. Alice ist etwas größer und dünner als ihre Schwester. Meistens verschränkt sie ihre Beine oder Arme. Noch nie habe ich sie entspannt gesehen. Auch jetzt sind ihre Augenbrauen zusammengezogen und sie schaut mich skeptisch an. Ich habe das Gefühl, sie vermutet, ich stecke mit Jesse unter einer Decke. Heute jedoch bin ich unschuldig. Auch ich habe seit Tagen nichts mehr von ihm gehört.
„Was für Alpträume?“ Ich bereue die Frage schon während ich sie stelle.
„Alpträume halt. Wilde Jagden. Jemand versucht sie zu erwürgen. Niemand hilft ihr.“
Jetzt sieht Alice mich direkt an. Ihr Blick ist nicht freundlich.
Ich nicke das Nudelregal an. „Ich werde mich bei ihr melden.“
„Beat, ich weiß nicht, was ihr da macht und was das Ganze soll ...“ Alice sucht nach Worten, nach Nudeln, „Aber es geht ihr echt nicht gut, und vielleicht könntest du mal mit Jesse reden, oder dich selber kümmern ...“ Sie greift nach einer Packung Penne, schaut sie an, „Vielleicht mal etwas ernsthafter kümmern ...“ Sie legt die Penne zurück, greift nach den Rigatoni, schüttelt sie. Dann seufzt sie, setzt wieder an. „Ich habe ja keine Ahnung, was ihr da tut, wie das funktioniert, aber wenn es nur Sex ist, unverbindlich oder was weiß ich ...“ Sie bricht ab, sucht weiter im Regal, vielleicht nach noch dickeren Nudeln, um ihre Rede zu unterstreichen, „Dann lass doch bitte meine Schwester in Ruhe. Ich verstehe das nicht. Entweder du kümmerst dich oder du kümmerst dich nicht. Was ist denn daran so schwer?“ Sie hat ihren Punkt gemacht, greift nach den Farfalle und wirft sie in ihren Wagen.
„Schmetterlinge.“
„Was?“ Sie dreht sich um und sieht Silvester hinter sich stehen.
Er zeigt auf die Nudeln.
„Du kaufst die Schmetterlinge. Die mag ich auch. Aber die sind noch besser.“ Er zieht eine Packung mit Bärennudeln heraus.
Alice zieht die Augenbrauen hoch. „Bist du für die nicht schon zu groß?“
„Er mag Tiere.“
Ich spiele den Vater-Bonus aus. Mein Ausdruck gibt ihr zu verstehen: Man muss das Kind grundsätzlich in seinen Interessen unterstützen, damit es sich entfalten kann. Und du bist zu kinderlos, um dazu eine Meinung zu haben.
Alice sieht mich verwirrt an. Sie weiß, dass irgendwo ein Kind von mir existiert, aber sie weiß auch, dass ich zu viel trinke und ihre Schwester zu oft versetze. Dann nickt sie langsam. „Ich sage Maya, dass du dich melden wirst.“
Sie winkt mir zu, wirft einen kurzen Blick auf Silvester und schiebt ihren Wagen den Gang hinunter. Ich muss sofort aus dem Supermarkt raus. Der Vater-Bonus fühlt sich plötzlich schal an und ich mache mir Vorwürfe wegen Maya. Ich hätte sie schon längst anrufen sollen. Dass Jesse seit Tagen unterwegs ist, überrascht mich nicht. Aber dass Maya bei ihrer Schwester übernachtet, gibt mir zu denken. Bei Alice hätte ich auch Alpträume. In ihren Fenstern hängen viel zu viele Dreamcatcher und Windspiele.
Wir fahren die Einkäufe zu mir und danach zum Zoo. Als Silvester im Reptilienhaus verschwindet, rufe ich Maya an und hinterlasse eine Nachricht. Dann rufe ich bei Jesse an. Keine Antwort, keine Mailbox. Ich stecke das Telefon in die Hosentasche und meine Hand hinterher, voller Unruhe, die ich mir selbst nicht erklären kann.
Nachdem Silvester eingeschlafen ist, arbeite ich wieder an dem Alten Mann. Ich möchte ihn fertig kriegen. Er geht mir auf die Nerven. Sein Blick wird jeden Tag anklagender. Er will die Bürde nicht auf sich nehmen, die ihm aus dem Rücken quillt. Er will sie loswerden, auf mich übertragen. Das ist dein Problem, nicht meines, scheint er zu sagen. Ich ignoriere ihn, ignoriere den süßlichen Geruch, den ich seit dem Abendessen nicht mehr aus der Nase kriege. Ich habe Kopfhörer auf, um Silvester nicht zu stören und male mich Strich um Strich aus dem Bild heraus. Der Alte Mann will mir seinen Schatten überstülpen. Ich aber weiß: Der Schatten wird wieder von allein zu mir zurückkommen. Sie alle kommen zu mir zurück, alle Schatten, die ich jemals irgendwo hinterlassen habe. Ich höre die Stimmen in meinen Kopf, seine leise und brüchig, meine aufbrausend und schnell. Ich rechtfertige mich einem Bild gegenüber, während ich darüber nachdenke, wie sinnlos das ist. Aber ich kann damit nicht aufhören. Ich muss es ihm erklären.
Plötzlich berührt mich etwas am Ärmel.
Ich zucke zusammen und drehe mich um. Silvester steht vor mir, reibt sich mit der Hand im Auge. Er weint. Ich nehme ihn in die Arme.
„Ich hab Angst, Papa.“
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