Tons May
LIFE KILLS
Bis dass der Tod dich scheidet
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Inhaltsverzeichnis
Titel Tons May LIFE KILLS Bis dass der Tod dich scheidet Dieses ebook wurde erstellt bei
0: Der Traum 0: Der Traum Gray kam zu mir, nicht umgekehrt, plötzlich stand er da, im Regen, mit hängenden Schultern, einem leeren Blick. Er hatte sich verlaufen, in meinem Traum. Als ich ihn das nächste Mal traf, hatte er sich wieder verlaufen, aber diesmal war er richtig. „ Ich glaube, dass wir vom Tod nie Besitz ergreifen können.“ Federico Fellini Als Gray aufwacht, sieht er das Gesicht des Jungen. Verzerrt an den Rändern, die Augen halbgeöffnet. Eine milchige Flüssigkeit tritt unter den Wimpern hervor, die Lippen sind verfärbt und schlaff. Gray sackt in sich zusammen, Muskel für Muskel gibt er sich auf. Er hört, wie das Telefon klingelt. Sophias Nummer. Wieder ein Mord. Wo bleibst du? Er zieht die Decke über den Kopf und taucht zurück, in den Traum vor dem Traum. Zurück ins Licht. TEIL I: NIGREDO Der Abschied: Die Welt ist finster und verworren. Leises Kichern in den hinteren Rängen. „ Ich glaube, dass der Tod genauso wenig Besitz von mir ergreifen kann, wie ich von ihm, es geht nicht darum, ergriffen zu werden, es geht nur um das Staunen. Ich glaube, der Tod und ich, wir stehen uns gegenüber und bestaunen uns, Tag für Tag, mein Staunen kommt und geht wie der Atem, wenn der Atem nicht mehr kommt und geht, dann hat es sich ausgestaunt.“ Nephthys
1: Tor und Teufel
2: Spuren
3: Kopflos
4: Der Sprung
5: Traumfrei
6: Narben
7: Zwölf
8: Der Unfall
9: Der Nachtmahr
10: Das Verhör
11: Verfolgt, verloren, vergessen
12: Die Unkunst
13: Haut & Knochen
14: Am Genfer See
15: Fluchtpunkt
16: Halbseidene Erinnerungen
17: Das geflügelte Auge
18: Nephthys’ Stimme aus dem legendären Off
19: Blutsbrüder
20: Noch mehr halbseidene Erinnerungen
21: Bain Marie
22: Das Geständnis
23: Durchschuss
24: Überlebt
25: Taxi zu Gott
26: Unheilbar
27: Tod und Mode
28: Heilige Hochzeit
29: Sophias Licht
30: Triptychon 1: Herrin des Hauses
31: Triptychon 2: Der Täufer
32: Triptychon 3: Der Schatten
33: Verkümmert
34: Apostel
35: Im Koma
36: Der König
37: Zur Geisterstunde
38: Schlangenkraft
39: Blutgeld
40: Die Einladung
41: Ausgefuchst
42: Dionysos Superstar
43: Schwere Herzen
44: Rosa
45: Der Befreier
46: Das Opfer
47: Himmelfahrt
Impressum neobooks
Gray kam zu mir, nicht umgekehrt, plötzlich stand er da, im Regen, mit hängenden Schultern, einem leeren Blick. Er hatte sich verlaufen, in meinem Traum.
Als ich ihn das nächste Mal traf, hatte er sich wieder verlaufen, aber diesmal war er richtig.
„ Ich glaube, dass wir vom Tod nie Besitz ergreifen können.“
Federico Fellini
Als Gray aufwacht, sieht er das Gesicht des Jungen. Verzerrt an den Rändern, die Augen halbgeöffnet. Eine milchige Flüssigkeit tritt unter den Wimpern hervor, die Lippen sind verfärbt und schlaff. Gray sackt in sich zusammen, Muskel für Muskel gibt er sich auf. Er hört, wie das Telefon klingelt. Sophias Nummer. Wieder ein Mord. Wo bleibst du?
Er zieht die Decke über den Kopf und taucht zurück, in den Traum vor dem Traum. Zurück ins Licht.
TEIL I: NIGREDO
Der Abschied: Die Welt ist finster und verworren. Leises Kichern in den hinteren Rängen.
„ Ich glaube, dass der Tod genauso wenig Besitz von mir ergreifen kann, wie ich von ihm, es geht nicht darum, ergriffen zu werden, es geht nur um das Staunen. Ich glaube, der Tod und ich, wir stehen uns gegenüber und bestaunen uns, Tag für Tag, mein Staunen kommt und geht wie der Atem, wenn der Atem nicht mehr kommt und geht, dann hat es sich ausgestaunt.“
Nephthys
„Chicken or cheese?“
Hier oben, 10000 Meter über der Erde, über Häusern und Straßen, Wäldern, Seen und Feldern, überkommt es ihn. Er schüttelt sich. Strahlend weiße Wolkenfetzen nehmen ihm die Perspektive. Er ist so glücklich, er könnte heulen. Die Welt. So zart, so zerbrechlich. Hier oben kann er sie lieben. In Quadraten, Streifen und Ovalen liegt sie unter ihm, wellt sich bis an den Rand seiner Wahrnehmung. Er fliegt über den Abgrund und beobachtet die Falten und Risse seiner Wirklichkeit.
Hier oben ist die Schwerkraft eine andere: Sie zieht nicht in den Füßen, sie zieht in der Brust. Macht melancholisch, schwer in den Gliedern, leicht im Kopf. Hier oben gerinnt potenziell jeder Augenblick zu einer Vision. Er sieht sich durch die Luft tauchen, Wolken reiten, Regenbogen rutschen. Erhöhte Radioaktivität, Terrorparanoia, Thrombosegefahr, fades Essen – er nimmt es in Kauf.
Er liebt es zu fliegen. Er liefert sich gerne aus.
„Chicken, please.“ Er atmet schwer. Beginnt zu zittern. Mit nassem Gesicht dreht er sich zum Fenster, weg von seinem fettleibigen Nachbarn.
”Are you OK, sir?”
Er nickt ohne hochzusehen. Über den Wolken gleißt die Sonne mit einem harschen Licht. Die Luft funkelt blau, weiß, silbern. Am Horizont der dünne Streifen eines anderen Flugzeugs. Der Mann kneift die Augen zusammen. Das Licht blendet. Er wischt sich abwesend mit einer Hand über das Gesicht, schließt die Augen. Hier oben ist ihm alles klar. Nichts ist wichtig. Alles hat dieselbe Bedeutung. Er nickt. Sobald er unten ist, wird er sich wieder verlieren. Dort unten ist zu viel Welt, zu viel Verwirrung. Hier oben ist er allein; eingeschlossen in seinem engen Sitz, über seinem Abgrund, ist er ganz bei sich.
Bei der Landung merkt er, dass er nach Hause kommt. Er weint mit offenen Augen. Goldgräber oder Goldmacher? Bald wird er mehr wissen.
Die Ankunft am Flughafen nimmt ihm den gewohnten Schwung. Es regnet, ohne zu regnen. Die Passagiere bewegen sich langsam, schütteln den Unterdruck aus den Ohren, ziehen Koffer und Taschen hinter sich her. Er geht durch die Passkontrolle, ein Aktenkoffer in der einen Hand, eine kleine Reisetasche in der anderen. Sein Jackett ist offen, die Krawatte gelockert. Er fühlt, wie der Schweiß ihm die Nase herunter läuft. Ein einzelner Tropfen, der sich mit der staubigen Mittagshitze vermischt. Er fühlt sich durchlässig unter den anderen Reisenden und unter den Einheimischen, die sich direkt hinter der Gepäckausgabe vermischen. Menschen, die ihn mit der oberflächlichen Neugier von erfahrenen Verkäufern mustern. Sie bieten alle etwas an: Zimmer, Taxis, Touren. Der Geschäftsmann geht an ihnen vorbei in die weiße Hitze vor dem Gebäude und winkt nach einem der Wagen, die sich vor dem Ausgang aufgereiht haben. Er kennt sich aus. Er steigt ein und zeigt der Fahrerin einen Zettel. Sie nickt und fährt los.
Von der Rückbank aus sieht die Gegend so fremd aus, wie er sie in Erinnerung hat. Sie fahren über eine halbe Stunde durch vorstädtische Gebiete. Die Häuser neben der Autobahn stehen eng zusammen, die Sonne spiegelt sich in den Fenstern. Attrappen, hinter denen Puppen sitzen und im Rhythmus der Autobahn zittern. Er hält sich an seiner Sonnenbrille fest.
Hinter der Brille: vibrierende Wimpern, flüchtige Blicke, halbe Konzentration. Jenseits der Brille: ein schneller, bunter Film voll von zitternden Plastiktüten, schimmerndem Metall, rennenden Kindern.
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